Teamkultur statt Zuständigkeit – Führung neu denken zwischen Pflege und Betreuung

von Tobias Münzenhofer

„Wo Pflege und Betreuung sich begegnen, entsteht Menschlichkeit“

In der Langzeitpflege entscheidet nicht die Berufsbezeichnung, sondern das Miteinander.

In der stationären Langzeitpflege arbeiten Pflege- und Betreuungskräfte Tür an Tür. Sie teilen Bewohner:innen, Dienstzeiten und Sorgen, sie tragen beide Verantwortung für Wohlbefinden, Lebensqualität und Sicherheit. Und doch verlaufen ihre Wege im Alltag oft nebeneinander statt miteinander.

Pflege kümmert sich um Körper, Dokumentation und medizinische Sicherheit. Betreuung sorgt für Begegnung, Sinn und emotionale Nähe. Und irgendwo dazwischen sitzt der Mensch mit Demenz – mit Angst, Schmerz oder Verwirrtheit – und hofft, dass beide miteinander sprechen.

Dieser Beitrag will zeigen, warum die Trennung von Pflege und Betreuung kein organisatorisches Detail ist, sondern ein kulturelles Problem. Er zeigt, dass Beziehungsqualität nur dort entsteht, wo Pflege und Betreuung als gleichwertige Partner:innen zusammenarbeiten – gestützt von Führung, Struktur und Haltung.

Beziehung ist kein Nebenschauplatz

Der DNQP-Expertenstandard „Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz“ beschreibt es klar: Beziehung ist die Basis jeder professionellen Pflege.

Menschen mit Demenz erleben die Welt fragmentiert. Orientierung, Sicherheit und Vertrauen entstehen erst durch Beziehung – nicht durch Medikamente oder Pflegepläne. Dafür braucht es Teams, die gemeinsam hinsehen, zuhören, deuten und handeln.

Und doch begegnet man in der Praxis oft einem Muster: Pflege protokolliert, Betreuung animiert, beide arbeiten im selben Haus, aber in unterschiedlichen Welten. Pflege berichtet Vitalwerte, Betreuung beschreibt Stimmungen. Zwei Wahrheiten über denselben Menschen – doch kaum jemand bringt sie zusammen.

Wenn diese Welten nicht verbunden werden, bleibt das Bild unvollständig. Der Mensch wird fragmentiert – in Körper und Seele, in Pflege und Beschäftigung. Dabei ist gerade die Verbindung beider Perspektiven das, was Beziehung ausmacht.

Zwei Professionen, zwei Sprachen – und eine gemeinsame Verantwortung

Pflegekräfte sind darin geschult, klinische Veränderungen zu erkennen: Puls, Atmung, Haut, Flüssigkeitsbilanz. Betreuungskräfte beobachten etwas anderes – Blicke, Mimik, Gesten, Antrieb, Stimmung. Beide Perspektiven sind unersetzlich.

Aber das System trennt sie. Dienstzeiten passen selten zusammen, Übergaben finden getrennt statt, Dokumentationssysteme sind nicht kompatibel. So entsteht ein Missverständnis: Pflege glaubt, Betreuung wisse zu wenig; Betreuung glaubt, Pflege höre nicht zu.

Doch in Wahrheit fehlt es nicht am Willen, sondern an Struktur und Kultur. Pflege denkt in Verantwortung, Betreuung in Beziehung – aber beide dienen demselben Ziel: Lebensqualität. Eine Führungskraft, die das erkennt, legt den Grundstein für eine neue Form der Zusammenarbeit.

Gerontopsychiatrische Pflege: Wenn Verhalten zur Sprache wird

In der gerontopsychiatrischen Pflege begegnen wir Menschen, deren Ausdrucksformen sich verändern. Demenz, Depression, Delir und Schmerz überlagern sich – Worte weichen Verhaltenszeichen.

Jedes Verhalten hat Bedeutung.
Es ist Ausdruck eines Bedürfnisses – nach Sicherheit, Nähe, Orientierung oder Entlastung.

In „Demenzielles Verhalten gemeinsam verstehen und gemeinsam handeln“ habe ich beschrieben, dass Verhalten keine Störung, sondern Kommunikation ist. Es ruft nach Deutung.

Und genau hier zeigt sich, warum Pflege und Betreuung untrennbar sind. Pflege nimmt körperliche Hinweise wahr – Betreuung die emotionalen. Wenn diese Wahrnehmungen nebeneinanderstehen, bleibt Verhalten unverständlich. Erst in der gemeinsamen Deutung entsteht eine Verstehenshypothese – und damit professionelles Handeln.

Zwischen Tür und Angel ist keine Zusammenarbeit

Man kennt sie: die flüchtigen Gespräche im Flur, der Zuruf über den Stationsgang, die halbe Minute an der Küchentür. Diese Form des Austauschs ist Alltag – aber sie ersetzt keine echte Kooperation.

Beziehungsgestaltung braucht mehr als guten Willen. Sie braucht Zeitfenster, Strukturen und Räume, in denen Beobachtungen geteilt, Fragen gestellt und Hypothesen gebildet werden können.

Wenn Frau S. plötzlich nicht mehr essen will, ist das kein Pflegeproblem. Wenn Herr K. nachts ruft, ist das kein Betreuungsthema. Beides sind Signale, die nur gemeinsam verstanden werden können.

Doch solange Pflege und Betreuung nur „nebenbei“ sprechen dürfen, bleibt Beziehung Zufall. Darum müssen Einrichtungen Strukturen schaffen, die Zusammenarbeit nicht dem Zufall überlassen, sondern systematisch ermöglichen.

Pädagogische Führungsmentalität: Können – Wollen – Dürfen

In meinem Beitrag „Personalentwicklung in der gerontopsychiatrischen Versorgung – Pädagogische Führungsmentalität“ habe ich es auf eine einfache Formel gebracht:

Können × Wollen × Dürfen = Handlungskompetenz

Diese Formel gilt auch für Teams. Pflege- und Betreuungskräfte können viel, wollen Verantwortung übernehmen – aber sie dürfen es oft nicht.

Zu starre Zuständigkeiten, Angst vor Kompetenzüberschreitung und Hierarchien blockieren Entwicklung. Doch nur, wenn Menschen etwas dürfen, entsteht echtes Engagement.

Führung mit pädagogischer Haltung bedeutet, Menschen nicht zu lenken, sondern sie zu befähigen. Sie schafft Rahmenbedingungen, in denen Pflege und Betreuung eigenständig denken und handeln können – im Sinne der Bewohner:innen, nicht der Zuständigkeitslogik. Wer führen will, muss loslassen können. Denn Vertrauen ist das Fundament jeder Zusammenarbeit.

Personenzentrierte Führung – Beziehung auf Leitungsebene

In „Personenzentrierte Führung in der Pflege“ habe ich geschrieben:

„Führung ist kein Titel, sondern Beziehungsgestaltung auf organisationaler Ebene.“

Personenzentrierte Führung bedeutet, zuerst den Menschen zu sehen – nicht die Funktion. Sie fragt: Was braucht dieser Mensch, um seine Arbeit gut zu tun? statt Wie erfülle ich den Dienstplan?

Eine Leitung, die beziehungsorientiert führt, erkennt: Pflege und Betreuung haben unterschiedliche Aufgaben, aber gemeinsame Ziele. Sie schafft Gesprächsräume, moderiert Konflikte, fördert Verständnis und lebt Respekt vor. Diese Führung ersetzt Kontrolle durch Vertrauen, Hierarchie durch Dialog – und erkennt, dass Beziehungsgestaltung im Team der erste Schritt zur Beziehungsgestaltung mit Bewohner:innen ist.

Zusammenarbeit braucht Struktur

Kooperation entsteht nicht von selbst. Sie braucht feste Formen, verbindliche Rituale und klare Verantwortlichkeiten. Erfahrungen zeigen, dass Einrichtungen mit geregelten Austauschformaten stabiler, zufriedener und beziehungsorientierter arbeiten.

Struktur Aufgabe Wirkung
Multiprofessionelle Fallbesprechungen Gemeinsame Deutung von Verhalten, Symptomen und Bedürfnissen Perspektivenvielfalt, Sicherheit im Handeln
Beziehungsorientierte Übergaben Austausch über Stimmung, Kontakt und Beziehungsqualität Früherkennung von Krisen, emotionaler Zusammenhang
Pflege-Betreuungs-Tandems Gemeinsame Verantwortung für definierte Bewohner:innen Kontinuität, gegenseitige Entlastung
Supervision / kollegiale Fallberatung Reflexion von Belastung und Teamdynamik Professionalisierung, emotionale Entlastung
Gemeinsame Fortbildungen Demenz, Kommunikation, Delir, Depression Einheitliche Sprache, gegenseitiges Verständnis
Sichtbare Dokumentation Betreuungsbeobachtungen in Pflegesoftware integrieren Transparenz, Wertschätzung, Verbindlichkeit

Solche Strukturen sind keine Zusatzaufgabe. Sie sind Voraussetzung, damit Pflege und Betreuung wirksam werden können. Denn wo Austausch stattfindet, sinkt Reibung – und Beziehung wächst.

Beziehungskultur als Führungsaufgabe

Eine Pflegeeinrichtung ist immer auch ein Spiegel ihrer Führung. Wenn Leitungsebenen Dialog, Respekt und Zusammenarbeit leben, spiegelt sich das im gesamten Team.

Führungskräfte sind nicht nur Organisator:innen, sie sind Kulturträger:innen. Sie entscheiden, ob Gespräche Platz haben oder als „Zeitverschwendung“ gelten. Sie prägen, ob Beobachtungen der Betreuung als wertvoll oder als „nicht relevant“ gelten. Sie gestalten, ob Pflegekräfte auf Augenhöhe kommunizieren dürfen oder in alten Hierarchien verharren.

Eine Kultur der Offenheit entsteht nicht durch Anordnung, sondern durch Vorbild. Wenn Leitung sichtbar zuhört, auf Rückmeldungen reagiert und Teamarbeit fördert, entsteht Vertrauen. Und Vertrauen ist das Schmiermittel jedes funktionierenden Systems.

Von Nebeneinander zu Symbiose

Pflege und Betreuung sind keine getrennten Welten. Sie sind Partner:innen in einem gemeinsamen Auftrag: dem guten Leben alter Menschen.

Beide tragen Verantwortung – die eine Seite für das Körperliche, die andere für das Emotionale, beide für das Ganze. Wenn sie sich gegenseitig ernst nehmen, entsteht Symbiose: Pflege erhält Tiefe, Betreuung gewinnt Professionalität.

Symbiose bedeutet nicht, dass alle alles tun. Es bedeutet, dass alle wissen, was sie tun – und warum. Dass sie einander informieren, respektieren, vertrauen. Dass sie gemeinsam denken, handeln und reflektieren.

Dazu braucht es keine neuen Konzepte, keine Projektplakate und keine PR-Slogans. Es braucht Haltung. Weniger „Wer darf was?“ – mehr „Wer weiß was?“
Weniger „Ich hab keine Zeit.“ – mehr „Lass uns kurz reden, bevor etwas kippt.“
Weniger Distanz – mehr Vertrauen.

Denn Pflege wird erst menschlich, wenn sie gemeinsam gedacht wird. Und dort, wo Pflege und Betreuung sich als Partner:innen verstehen, wächst das, was jedes Heim verspricht, aber nur wenige wirklich leben: Lebensqualität.

Fazit

Die Zukunft der Langzeitpflege entscheidet sich nicht an neuen Gesetzen oder technischen Innovationen, sondern an der Art, wie Menschen miteinander umgehen. Pflege und Betreuung bilden gemeinsam das Herz der Einrichtung. Wenn dieses Herz synchron schlägt – mit Empathie, Austausch und Vertrauen – entsteht das, was Bewohner:innen, Angehörige und Mitarbeitende gleichermaßen spüren: eine Kultur des Miteinanders.

 

Tobias Münzenhofer

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