Sexualität im Alter und bei Demenz im Pflegealltag

von Tobias Münzenhofer

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"Sexualität ist so viel mehr als machen - Sexualität beginnt mit SEIN." Claudia Pesenti-Salz

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Die Wahrnehmung und Akzeptanz von Sexualität im Alter und bei Demenz ist in der Pflege oft ein tabuisiertes und herausforderndes Thema. Sexualität ist jedoch ein elementarer Bestandteil des Menschseins und bleibt auch im hohen Alter relevant. Pflegekräfte erleben intime Situationen, die oft Missverständnisse hervorrufen oder Unsicherheiten verstärken. Für eine professionelle Pflege ist es daher entscheidend, angemessen auf die Bedürfnisse älterer Menschen einzugehen, ohne persönliche Grenzen zu überschreiten. Dieser Leitfaden beleuchtet die Bedeutung von Sexualität bei Menschen mit Demenz, gibt praktische Hinweise zum Umgang mit herausfordernden Situationen und zeigt Lösungsansätze zur Enttabuisierung.

1. Bedeutung von Sexualität und Intimität im Alter

Sexualität umfasst weit mehr als körperliche Handlungen; sie ist Ausdruck emotionaler Bedürfnisse und eine Dimension des menschlichen Lebens, die auch durch Gedanken, Fantasien, Beziehungen und soziale Interaktionen geprägt ist. Die WHO definiert Sexualität als elementar für das Wohlbefinden, unabhängig vom Alter. Für ältere Menschen und Menschen mit Demenz bedeutet Sexualität oft Nähe und Geborgenheit, die nicht allein auf Sexualität im engeren Sinne beschränkt ist. Es geht um unser Wohlsein, ein Menschenrecht selbstbestimmt leben zu dürfen und beide Begriffe schliessen die gleichen Aspekte mit ein, die im nebenstehenden Kreismodell dargestellt sind. Sporken war ein Theologe und Medizin-Ethiker. Er erklärt Sexualität vereinfacht mit seinem 3-Kreise-Modell und zeigt doch auf, wie breitfächrig Sexualität ist. Wenn ein Mensch sich bei einigen Aspekten im äusseren Kreis nicht wohl oder sicher fühlt, wird es auch schwieriger das Körperliche (mittlerer und innerer Kreis) entspannt, freudig und erfüllend zu erleben. Entgegengesetzt nährt eine lustvoll erlebte Körperlichkeit (innerer und mittlerer Kreis) die Aspekte im äussersten Kreis und macht, dass wir uns allgemein in allen unseren Lebensbereichen viel besser fühlen. Das hat auch eine förderliche Wirkung auf unsere körperliche Gesundheit.

3-Zonen Modell nach Sporken

Intimität bei Demenz – die Suche nach emotionaler Stabilität

Menschen mit Demenz sind oft isoliert, und die Krankheit erschwert soziale Bindungen. Ihre Wünsche nach Nähe und Zuwendung bleiben jedoch erhalten. Studien zeigen, dass auch Menschen mit fortgeschrittener Demenz Zärtlichkeit und Intimität suchen. Pflegekräfte übernehmen in diesen Situationen häufig die Rolle einer engen Bezugsperson und bieten einen emotionalen Anker, was eine besondere Herausforderung darstellt, weil dies eine Balance zwischen Nähe und professioneller Distanz erfordert.

Die Rolle der Biografiearbeit

Ein bewährtes Instrument zur Unterstützung des sensiblen Umgangs mit Sexualität bei Demenz ist die Biografiearbeit. Sie hilft Pflegekräften, frühere Beziehungen, Werte und kulturelle Hintergründe der Betroffenen zu verstehen, um Verhaltensweisen besser zu deuten. Informationen über das Leben, die Familie, Vorlieben und Einstellungen der Betroffenen können helfen, Ausdrucksformen von Nähe oder Verhaltensweisen als non-verbale Botschaften zu deuten, die nach emotionaler Unterstützung verlangen. Die Arbeit mit Biografien bietet den Vorteil, dass Pflegekräfte mit den Gewohnheiten und Beziehungen der Person vertraut werden und so die Reaktionen der Betroffenen besser verstehen und einordnen können.

2. Sexualität in der Pflege – Tabus und Herausforderungen

Sexualität und Intimität in der Pflege gelten nach wie vor als Tabuthemen. Pflegekräfte begegnen sexuellen oder grenzüberschreitenden Handlungen bei Bewohner*innen und Klient*innen oft mit Unsicherheit. Studien zeigen, dass Pflegende Sexualität im Alter oft als unangenehm empfinden, was häufig auf fehlende Ausbildung und Sensibilisierung zurückzuführen ist. Gleichzeitig ist das Thema mit Vorurteilen und persönlichen Hemmschwellen behaftet. Für Pflegekräfte ist es jedoch wichtig, sich bewusst zu machen, dass sie mit ihrem Verhalten die Qualität des Pflegeumfelds prägen und die Atmosphäre beeinflussen können. Eine ruhige und respektvolle Haltung hilft, die Würde und Intimität der zu Pflegenden zu wahren und schafft ein Klima des Vertrauens.

3. Sexualität im Alter: Veränderungen und Bedürfnisse

Das Bedürfnis nach Nähe und Zuwendung bleibt oft bestehen, auch wenn die sexuelle Aktivität oder das sexuelle Interesse im Alter abnimmt. Altersbedingte körperliche Veränderungen wie die Abnahme von Testosteron und Östrogen führen bei vielen älteren Menschen zu einer verminderten Libido, doch das Verlangen nach Intimität und emotionaler Nähe bleibt unverändert. Zudem nehmen soziale und emotionale Aspekte an Bedeutung zu. Für Menschen mit Demenz, die häufig in stationären Pflegeeinrichtungen leben, können sich diese Bedürfnisse durch kognitive Veränderungen anders ausdrücken. Handhalten, Umarmungen oder scheinbar „unkonventionelles“ Verhalten wie das Nesteln an Kleidung sind häufige Ausdrucksformen von Nähe, die von Pflegekräften als sexuelle Annäherung fehlinterpretiert werden können.

Einflüsse und Herausforderungen der Demenz

Durch die Demenz werden soziale Normen und Kontrollmechanismen oft nicht mehr wahrgenommen, was zu grenzüberschreitenden oder enthemmten Verhaltensweisen führen kann. Diese Verhaltensweisen spiegeln jedoch häufig Bedürfnisse nach Sicherheit und sozialer Bindung wider. Für Pflegekräfte ist es hilfreich, diese Ausdrucksformen neu zu deuten und individuelle Verhaltensweisen nicht sofort als problematisch einzuordnen.

Persönliche Grenzen und Ausdrucksformen respektieren

Das persönliche Verständnis von Nähe und Sexualität variiert stark, abhängig von kulturellen und individuellen Prägungen. Pflegekräfte sollten deshalb sensibel und empathisch auf die Ausdrucksweisen der Betroffenen reagieren und gleichzeitig eigene Grenzen wahren. Hier kann das Wissen um die Lebensgeschichte und die persönliche Einstellung des Bewohners zur Sexualität hilfreich sein. 

4. Umgang mit unangemessenem Verhalten: Handlungsstrategien für Pflegekräfte

In der Pflege ist der Umgang mit unangemessenem Verhalten oft belastend. Die folgenden Strategien bieten Pflegekräften Orientierung und stärken die Handlungssicherheit:

Direkte Ansprache und klare Kommunikation

Ein respektvoller Umgang erfordert eine direkte und klare Kommunikation, die den professionellen Abstand wahrt. Pflegekräfte sollten unerwünschte Berührungen oder Annäherungen sofort ansprechen, um Missverständnisse zu vermeiden und die eigenen Grenzen zu verdeutlichen. Aussagen wie „Ich sehe, dass Sie sich nach Nähe sehnen, aber ich bin Ihre Pflegekraft und nicht Ihre Partnerin“ können Klarheit schaffen und ein respektvolles Miteinander fördern.

Verhaltensweisen neu interpretieren

Nicht jede Handlung, die auf den ersten Blick als sexualisiert wirkt, ist tatsächlich so gemeint. Verhalten wie das Greifen nach Händen oder das Nesteln an Kleidung kann auf emotionale Bedürfnisse hinweisen und muss nicht immer als sexuelle Annäherung gedeutet werden. Ein einfühlsames Gespräch oder das Angebot einer alternativen Tätigkeit können in solchen Momenten beruhigend wirken und gleichzeitig den Kontakt wahren.

Ablenkung und Alternativen anbieten

In Eskalationssituationen kann Ablenkung helfen, unerwünschte Verhaltensweisen umzulenken. Ein freundliches Gespräch, das Anbieten von Gegenständen zur Beschäftigung oder das Lenken auf ein gemeinsames Projekt kann das Bedürfnis nach Kontakt befriedigen, ohne dass die professionelle Distanz verloren geht. Gespräche über persönliche Interessen oder Erinnerungen haben eine beruhigende Wirkung und schaffen Verbindung.

Einbindung des Teams

Ein einheitliches Vorgehen im Team ist entscheidend, um einheitliche Richtlinien zu schaffen und die Sicherheit im Umgang mit schwierigen Situationen zu erhöhen. Die regelmäßige Besprechung im Team und das Erarbeiten von Verhaltensregeln für den Umgang mit unangemessenem Verhalten sorgen für Klarheit und entlasten die Pflegekräfte. Eine transparente Kommunikation unter den Teammitgliedern hilft, Belastungen zu teilen und die kollektive Kompetenz zu stärken.

5. Sexualassistenz und alternative Ansätze – Würde durch innovative Methoden wahren

Ein sensibler Umgang mit Sexualität im Alter erfordert innovative Ansätze. Die Sexualassistenz ist ein wachsendes Feld, das darauf abzielt, die Bedürfnisse nach Intimität und Nähe auf würdevolle Weise zu erfüllen, ohne dass Pflegekräfte über ihre beruflichen Grenzen hinaus belastet werden.

Was ist Sexualassistenz?

Sexualassistenten und -assistentinnen sind Menschen, die sexuelle Dienstleistungen anbieten. Die Sexualassistenz unterscheidet sich aber von anderen Formen der Sexarbeit, weil sie sich explizit an Menschen mit Behinderung oder alte Menschen richtet. Diese können eine Sexualassistentin oder einen -assistenten buchen. Das Sozialgericht in Hannover hat entschieden, dass Menschen, die aufgrund eines Arbeitsunfalls schwere Folgen davongetragen haben, eine Sexualassistenz bekommen können. Das zahlt in dem Fall die Berufsgenossenschaft. Ist der Unfall zum Beispiel zuhause passiert, dann zahlt die Rentenversicherung.

Sexarbeit oder Sozialarbeit?

Die Assistenz soll Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen. Es geht also nicht ausschließlich darum, sexuelle Bedürfnisse zu stillen. Die Dienstleistung soll dafür sorgen, dass die Kundinnen und Kunden in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt werden und ihre Persönlichkeit entwickeln können. Dazu kann Sex einen Beitrag leisten, aber auch einfach nur eine Umarmung oder ein gutes Gespräch.

Die Erotikbox als Unterstützungsmittel

Ein einfühlsamer Ansatz zur Wahrung der Würde ist die sogenannte „Erotikbox“. Sie enthält Materialien wie Parfüms, Musik, Fotos und andere Erinnerungsstücke, die emotionale Reaktionen auslösen und positive Erinnerungen wecken können. Diese Box hilft dabei, die emotionale Verbindung zu fördern, ohne dass die professionelle Distanz überschritten wird. Pflegekräfte können die Erotikbox einsetzen, um auf non-physische Weise emotionale Bedürfnisse zu erfüllen und das Wohlbefinden der Betroffenen zu steigern. Der Einsatz solcher Mittel fördert das Verständnis, dass Intimität auch durch persönliche Erinnerungen und vertraute Düfte oder Klänge erfahrbar ist.

Alternativen zu direkter Berührung: sensorische Aktivitäten

Alternativen wie der Einsatz von weichen Stoffen, aromatischen Ölen oder entspannender Musik bieten Möglichkeiten, das Bedürfnis nach Berührung und Nähe zu erfüllen. Diese sensorischen Aktivitäten dienen als beruhigende Alternative zur physischen Nähe und helfen Pflegekräften, die professionelle Distanz zu wahren, während die Bedürfnisse der Bewohner*innen berücksichtigt werden.

6. Grenzen und Selbstfürsorge der Pflegekräfte

Pflegekräfte stehen in ihrem beruflichen Alltag oft emotionalen Belastungen gegenüber, wenn sie sich mit Themen wie Nähe und Intimität auseinandersetzen müssen. Selbstreflexion und Teamunterstützung spielen daher eine wichtige Rolle bei der Selbstfürsorge und helfen, eigene Grenzen zu erkennen und zu respektieren.

Unterstützung im Team suchen

Die Unterstützung durch Kolleg*innen ist von zentraler Bedeutung. Regelmäßige Fallbesprechungen und Supervisionen bieten Pflegekräften Raum, über belastende Situationen zu sprechen und sich Unterstützung zu holen. Der Austausch mit dem Team hilft dabei, das Verhalten der Betroffenen besser zu verstehen und ein gemeinsames Vorgehen zu entwickeln.

Reflexion der eigenen Einstellung zur Sexualität

Die persönliche Einstellung zu Nähe und Intimität hat erheblichen Einfluss auf die Reaktion der Pflegekraft auf herausfordernde Situationen. Die bewusste Auseinandersetzung mit eigenen Erfahrungen und Prägungen hilft Pflegekräften, eine klare Haltung einzunehmen und sich der eigenen emotionalen Grenzen bewusst zu werden. Diese Reflexion fördert den professionellen Umgang und beugt emotionaler Erschöpfung vor.

Schutzmaßnahmen im Pflegealltag

Pflegekräfte können einfache Schutzmaßnahmen nutzen, um ihre professionelle Distanz zu betonen und Missverständnissen vorzubeugen. Das Tragen von neutraler Kleidung und Handschuhen bei der Körperpflege sowie eine klare, sachliche Sprache unterstützen die Wahrung der professionellen Distanz und schaffen Sicherheit in intimen Situationen.

7. Institutionelle Unterstützung und Fortbildungen

Ein wesentlicher Aspekt zur Unterstützung der Pflegekräfte im Umgang mit dem Thema Sexualität und Intimität ist die institutionelle Vorbereitung. Pflegeeinrichtungen sollten gezielt auf solche Situationen vorbereiten und regelmäßige Schulungen sowie Supervisionen anbieten, um Handlungssicherheit zu fördern.

Praxisorientierte Fortbildungen und Rollenspiele

Pflegekräfte profitieren besonders von praxisnahen Übungen wie Rollenspielen, in denen sie herausfordernde Situationen realitätsnah üben können. Diese Übungen ermöglichen es Pflegekräften, in einem sicheren Rahmen ihre Reaktionen zu reflektieren und ihre Kompetenzen im Umgang mit problematischen Verhaltensweisen zu stärken.

Erarbeitung institutioneller Richtlinien

Klare Richtlinien und Handlungsanweisungen geben den Pflegekräften Sicherheit und Orientierung im Umgang mit sexuellen oder grenzüberschreitenden Verhaltensweisen. Die Einbindung aller Teammitglieder in die Erarbeitung dieser Standards fördert die Akzeptanz und ermöglicht eine einheitliche, respektvolle Haltung gegenüber den Bedürfnissen der Bewohner*innen und den Grenzen der Pflegenden. Institutionelle Unterstützung durch Supervision, psychologische Beratung und Austauschmöglichkeiten schaffen ein Klima des Verständnisses und der Zusammenarbeit, das Pflegekräfte in ihrer täglichen Arbeit stärkt.

8. Fazit – Sexualität im Alter und bei Demenz als integraler Bestandteil der Pflege

Sexualität und Intimität im Alter und bei Demenz bleiben ein sensibles, aber ebenso essentielles Thema in der Pflege. Für die zu Pflegenden bedeuten Nähe und Geborgenheit oft mehr als körperliche Intimität. Ein respektvoller Umgang mit den emotionalen Bedürfnissen älterer Menschen stärkt deren Lebensqualität und bietet ihnen eine würdevolle Pflegeumgebung. Gleichzeitig ist es essenziell, dass Pflegekräfte ihre eigenen Grenzen wahren und sich durch regelmäßige Fortbildungen und Supervision Unterstützung holen können.

Eine enttabuisierte und professionelle Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualität im Alter und bei Demenz trägt dazu bei, dass Pflegekräfte empathisch und selbstsicher auf die Bedürfnisse der Bewohner*innen eingehen können. Ein umfassendes Verständnis und klare institutionelle Richtlinien sind entscheidend, um eine Kultur der Wertschätzung und der professionellen Distanz zu fördern und gleichzeitig die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ein universales Menschenrecht ist, das auf Freiheit, Würde und Gleichheit aller Menschen basiert. Auch im Alter und bei Menschen mit Demenz bleiben diese Rechte bestehen, und es ist die Aufgabe der Gesellschaft und insbesondere der Pflege, diese Ansprüche zu schützen und zu respektieren. Jeder Mensch hat das Recht, selbst zu entscheiden, ob, wann und mit wem er eine Beziehung eingehen möchte und wie er seine Sexualität leben will. Ein erfülltes Sexualleben und der Schutz vor Diskriminierung, Missbrauch und sexuell übertragbaren Krankheiten sind grundlegende Rechte, die bis ins hohe Alter gelten. Wie der Anspruch auf Gesundheit umfasst auch die sexuelle Gesundheit das Recht auf ein Leben in Würde und Selbstbestimmung.

Indem Pflegekräfte in ihrer Arbeit die sexuelle Selbstbestimmung und das Bedürfnis nach Intimität der zu Pflegenden wahren, tragen sie dazu bei, die universalen Rechte jedes Menschen bis zum Lebensende zu respektieren.

Tobias Münzenhofer

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