Queersensible Pflege in der stationären Altenpflege

von Tobias Münzenhofer

Chancen und Handlungsempfehlungen

Queersensible Pflege in der stationären Altenpflege

In Pflegeheimen steht der Mensch mit all seinen Bedürfnissen im Mittelpunkt – das sollte zumindest der Anspruch sein. Jedoch zeigt die Praxis immer wieder, dass gerade Themen rund um sexuelle und geschlechtliche Vielfalt im Pflegealltag häufig unsichtbar bleiben oder gar tabuisiert werden. Dies führt dazu, dass queere Menschen im Alter oft auf Barrieren und Diskriminierungen stoßen, die sich negativ auf ihre Lebensqualität auswirken können. Gerade in Pflegeeinrichtungen, die eigentlich einen sicheren und respektvollen Lebensraum bieten sollten, entstehen dadurch Verunsicherungen und Ängste, die die ohnehin bestehende Vulnerabilität älterer Menschen weiter erhöhen. Viele queere Senior:innen haben in ihrem Leben bereits Diskriminierung erfahren und tragen deshalb oft eine Skepsis oder Angst vor Ablehnung und Ausgrenzung in sich, die im Alter noch einmal besonders belastend werden kann.

Hinzu kommt, dass Pflegeeinrichtungen in der Regel nicht explizit auf queere Lebensrealitäten vorbereitet sind. Oft fehlt den Mitarbeitenden schlichtweg das notwendige Wissen oder eine Sensibilisierung im Umgang mit Vielfalt in Bezug auf sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität. Die daraus resultierende Unsicherheit kann wiederum zu unbewusster Diskriminierung führen. Queersensible Pflege bietet hier große Chancen, Pflegeheime inklusiver, menschlicher und respektvoller zu gestalten. Ziel muss es daher sein, Strukturen, Prozesse und vor allem die Haltung der Mitarbeitenden so weiterzuentwickeln, dass queere Bewohner:innen sich ebenso willkommen und angenommen fühlen wie alle anderen Menschen in der Einrichtung.

Was bedeutet queersensible Pflege?

Queersensible Pflege geht über eine rein körperliche Versorgung hinaus. Sie berücksichtigt sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität explizit und anerkennt diese als wichtige Teile der persönlichen Identität. Queere Menschen – darunter zählen lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen – haben häufig Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht. Gerade im Alter kann die Angst vor erneuter Diskriminierung groß sein. Eine queersensible Haltung schafft Vertrauen und Sicherheit und hilft, Diskriminierungserfahrungen zu minimieren oder zu vermeiden. Dabei geht es darum, nicht nur passiv Diskriminierung zu vermeiden, sondern aktiv einen Raum der Akzeptanz und des Verständnisses zu schaffen.

Zudem beinhaltet queersensible Pflege eine reflektierte und kontinuierliche Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen und Vorurteilen. Pflegekräfte lernen, unbewusste Stereotype zu erkennen und kritisch zu hinterfragen. Dies fördert eine respektvolle Interaktion und trägt dazu bei, dass queere Menschen sich ernst genommen fühlen. Queersensible Pflege setzt sich auch bewusst für Sichtbarkeit ein und zeigt deutlich, dass alle Bewohner:innen gleichermaßen willkommen sind und ihre Identität anerkannt wird. Sie bedeutet eine ganzheitliche Betrachtung des Menschen in seiner Lebensgeschichte und seinen Bedürfnissen, die über rein medizinisch-pflegerische Aspekte hinausgeht.

Herausforderungen in der Praxis

Viele Pflegekräfte fühlen sich unsicher im Umgang mit queeren Bewohner:innen. Häufig fehlt es schlichtweg an Wissen und Verständnis für queere Lebensrealitäten. Zudem existieren in Einrichtungen oft wenig oder keine Strukturen, die queere Menschen sichtbar machen und unterstützen. Dies äußert sich beispielsweise darin, dass Doppelzimmer standardmäßig heteronormativ gedacht und zugeteilt werden, oder dass queere Beziehungen und Intimität kaum Platz finden.

Weiterhin fehlen oft klare interne Leitlinien und Konzepte, wie queersensible Pflege umgesetzt werden kann. Ohne spezifische Vorgaben fällt es Pflegekräften schwer, angemessen und sicher zu handeln, was wiederum zu Unsicherheit und Zögern in der praktischen Umsetzung führt. Auch fehlen in den meisten Einrichtungen Ansprechpartner:innen oder Vertrauenspersonen, die in schwierigen Situationen beratend zur Seite stehen können.

Ein weiterer Aspekt ist die generelle Tabuisierung und Scham im Umgang mit Themen wie Sexualität und geschlechtlicher Identität im Pflegekontext. Gerade ältere Generationen, die oft konservativer geprägt sind, empfinden diese Themen als unangenehm oder vermeidbar, wodurch sich Pflegekräfte in einem Spannungsfeld zwischen professioneller Verantwortung und sozialen Normen befinden. Dies erschwert eine offene und inklusive Haltung zusätzlich und kann dazu führen, dass queere Bedürfnisse unbewusst ignoriert oder aktiv unterdrückt werden.

Darüber hinaus fühlen sich Pflegekräfte insbesondere bei der Grundpflege überfordert, wenn es um die Pflege von künstlichen Geschlechtsteilen nach einer Geschlechtsangleichung oder Geschlechtsumwandlung geht. Hier fehlt oft spezifisches Fachwissen, und es besteht eine große Unsicherheit, Fehler zu machen oder die Bewohner:innen unbeabsichtigt zu verletzen. In solchen Situationen ist der Klient selbst häufig der beste Experte, und die Kommunikation und Anleitung durch die betroffenen Personen wird essenziell, um eine würdige und fachgerechte Pflege zu gewährleisten.

Hinzu kommt, dass viele Heimbewohner:innen aus einer Zeit stammen, in der es bis 1994 noch strafbar war, „anders“ zu sein. Aufgrund dieser historischen Erfahrungen verhalten sie sich oft zurückhaltend, in der Hoffnung auf eine vermeintlich „normale“ Behandlung und Pflege. Pflegekräfte hingegen sind teilweise so überfordert und emotional polarisiert, dass in Diskussionen der eigentliche Pflegebedarf in den Hintergrund rückt und stattdessen normative Konflikte dominieren.

Praxisorientierte Handlungsempfehlungen

1. Offene Haltung entwickeln

Eine offene Haltung ist das Fundament queersensibler Pflege. Pflegekräfte sollten regelmäßig Raum für Selbstreflexion und Austausch schaffen, um eigene Unsicherheiten oder Vorurteile zu erkennen und zu überwinden. Offene Gespräche im Team, begleitet von Supervision oder kollegialer Beratung, helfen dabei, Vorurteile sichtbar zu machen und konstruktiv zu bearbeiten.

2. Sensibilisierung und Fortbildung der Mitarbeitenden

Pflegeheime sollten kontinuierlich Fortbildungen zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt anbieten. Diese sollten sowohl theoretische Grundlagen vermitteln als auch praxisnahe Fallbeispiele behandeln. Externe Expert:innen aus queeren Beratungsstellen oder sexualpädagogischen Einrichtungen können zusätzliche Impulse geben und praxisorientierte Lösungsansätze vorstellen.

3. Sichtbarkeit schaffen

Es ist entscheidend, queere Lebensrealitäten in Pflegeheimen sichtbar zu machen. Dies gelingt beispielsweise durch Materialien wie Poster, Flyer oder thematische Veranstaltungen zum Pride Month. Auch regelmäßige thematische Aktivitäten, etwa Filmabende oder Gesprächsrunden, tragen dazu bei, queere Bewohner:innen sichtbarer und ihre Anliegen hörbarer zu machen.

4. Anamnese und Aufnahmeprozesse anpassen

Aufnahmeprozesse sollten bewusst so gestaltet werden, dass Fragen zu sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität selbstverständlich und respektvoll gestellt werden. Eine standardisierte, wertschätzende Fragestellung schafft Vertrauen und vermittelt den Bewohner:innen, dass ihre Identität anerkannt und respektiert wird.

5. Gestaltung von Wohn- und Lebensräumen

Pflegeheime sollten gezielt auf eine neutrale und flexible Gestaltung von Wohn- und Gemeinschaftsräumen achten. Doppelzimmer sollten so vergeben und gestaltet werden, dass sie unterschiedliche Paar- und Beziehungskonstellationen berücksichtigen. Gemeinschaftsräume sollten zudem neutral und inklusiv gestaltet sein, um eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich alle Bewohner:innen wohlfühlen können.

6. Partnerschaften und Intimität ermöglichen

Pflegeheime sollten Räume schaffen, in denen Partnerschaft und Sexualität in Privatsphäre gelebt werden können. Hierzu gehören klare Regelungen für Privatsphäre in Einzel- und Doppelzimmern sowie spezielle Rückzugsorte für Paare. Pflegekräfte sollten geschult werden, respektvoll mit diesen Themen umzugehen und Bewohner:innen proaktiv bei der Wahrung ihrer Intimsphäre zu unterstützen.

7. Interdisziplinäre Zusammenarbeit fördern

Die Zusammenarbeit mit externen Expert:innen und Fachstellen sollte institutionalisiert werden. Regelmäßige Kooperationen, gemeinsame Fortbildungen und Beratungen unterstützen Einrichtungen dabei, aktuelle Entwicklungen zu berücksichtigen und queersensible Pflege auf fachlich hohem Niveau umzusetzen.

8. Kommunikation und Austausch fördern

Es ist wichtig, eine offene und wertschätzende Kommunikation zwischen Pflegekräften und Bewohner:innen aktiv zu fördern. Bewohner:innen sollten ermutigt werden, ihre Bedürfnisse und Erfahrungen frei zu äußern. Der respektvolle Austausch ermöglicht es Pflegekräften, von den Bewohner:innen zu lernen und Pflege individuell anzupassen.

9. Pflege als politische Verantwortung begreifen

Pflegeeinrichtungen sollten sich bewusst sein, dass queersensible Pflege nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gesellschaftliche Verantwortung ist. Indem sie eine klare Haltung nach außen vertreten, tragen sie aktiv zur gesellschaftlichen Akzeptanz von Vielfalt bei und stärken das Selbstverständnis ihrer Mitarbeitenden.

Fazit

Queersensible Pflege ist kein Nischen-Thema, sondern ein essenzieller Baustein einer modernen, ganzheitlichen und menschenzentrierten Pflegepraxis. Pflegeeinrichtungen, die sich aktiv und bewusst für eine queersensible Pflege einsetzen, übernehmen eine bedeutende gesellschaftliche Verantwortung. Sie senden ein klares Signal der Akzeptanz und Wertschätzung an alle Bewohner:innen und Mitarbeitenden und tragen entscheidend dazu bei, Diskriminierung und Vorurteile nachhaltig abzubauen.

Eine bewusste und offene Haltung gegenüber sexueller und geschlechtlicher Vielfalt schafft nicht nur ein angenehmes Klima für queere Bewohner:innen, sondern verbessert auch das Zusammenleben aller Bewohner:innen im Heim. Einrichtungen, die sich offen zu Vielfalt bekennen und diese leben, steigern die Lebensqualität und Zufriedenheit ihrer Bewohner:innen und schaffen zugleich eine attraktivere Arbeitsumgebung für ihre Mitarbeitenden.

Die Implementierung einer queersensiblen Pflege ist dabei nicht nur eine Frage von Professionalität, sondern auch von Empathie und Menschlichkeit. Sie fordert Pflegekräfte dazu auf, sich kontinuierlich weiterzuentwickeln und eine Haltung des lebenslangen Lernens einzunehmen. Pflegekräfte gewinnen dabei an Selbstvertrauen, Kompetenz und Zufriedenheit, da sie befähigt werden, mit Vielfalt und den unterschiedlichen Bedürfnissen ihrer Klient:innen souverän umzugehen.

Jede Einrichtung, die sich auf den Weg der queersensiblen Pflege begibt, leistet zudem einen wichtigen Beitrag zu einer inklusiveren Gesellschaft. Sie hilft dabei, die Geschichte von Diskriminierung und Stigmatisierung queerer Menschen sichtbar zu machen und aufzuarbeiten, indem sie offen für alle Lebensentwürfe und Identitäten eintritt. Damit wird das Pflegeheim zu einem Vorbild für eine inklusive Gesellschaft, in der Vielfalt als Stärke und Bereicherung anerkannt wird.

Ein möglicher Wegweiser auf diesem Weg ist das anerkannte Qualitätssiegel "Lebensort Vielfalt" der Schwulenberatung Berlin. Es unterstützt Pflegeeinrichtungen dabei, sich systematisch und nachhaltig für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt zu öffnen. Das Siegel stellt nicht nur ein Zeichen für die Außenwirkung dar, sondern dient zugleich als Instrument zur Qualitätsentwicklung und -sicherung innerhalb der Einrichtung. Es bietet konkrete Kriterien, Leitfäden und Fortbildungsangebote, die Pflegeheime dabei unterstützen, queersensible Strukturen zu schaffen und weiterzuentwickeln.

Es gilt nun, mutig und konsequent die empfohlenen Handlungsschritte zu ergreifen und Pflegekräfte sowie Bewohner:innen aktiv in den Entwicklungsprozess einzubeziehen. Eine gelingende Umsetzung erfordert Engagement, Entschlossenheit und die Bereitschaft, sich stetig selbst zu reflektieren und weiterzubilden. Pflegeheime, die diesen Weg beschreiten, positionieren sich als fortschrittliche Einrichtungen, die authentisch für die Bedürfnisse aller Bewohner:innen eintreten.

Schließlich sollten alle Mitarbeitenden erkennen, dass queersensible Pflege eine Chance bietet, über das alltägliche Pflegehandeln hinauszuwachsen und echte soziale und kulturelle Veränderungen herbeizuführen. Sie werden so Teil eines wichtigen gesellschaftlichen Wandels, der langfristig dazu beiträgt, Lebensqualität und Zufriedenheit für alle Menschen im Pflegeheim und darüber hinaus zu verbessern. Es ist an der Zeit, queersensible Pflege nicht nur anzuerkennen, sondern aktiv zu gestalten und zu leben.

Tobias Münzenhofer

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