Gewalt in der häuslichen Pflege: Erkennen, Benennen und Handeln
von Tobias Münzenhofer
Fortbildung zum Artikelthema
Zur FortbildungGewalt in der Pflege ist ein komplexes Thema, bei dem ein kriminologischer Ansatz – Wer ist Täter, wer Opfer? – wenig hilfreich ist.

Gewaltprävention in der häuslichen Pflege: Strukturen verstehen, Angehörige unterstützen
Die Pflege von Angehörigen in den eigenen vier Wänden kann eine erfüllende, aber auch außerordentlich belastende Aufgabe sein. Häufig übernehmen Familienmitglieder diese Verantwortung aus tiefer Verbundenheit oder schlicht aus Mangel an Alternativen. Dennoch finden sich in der häuslichen Pflege mitunter Situationen, in denen Gewalt entsteht – sei es gegenüber der pflegebedürftigen Person oder gegenüber den Pflegenden selbst. Wichtig ist hierbei, dass wir Gewalt nicht ausschließlich als vorsätzliche Tat „böser Angehöriger“ verstehen dürfen. Denn in vielen Fällen ist Gewalt in der Pflege das Resultat von Überlastung, fehlender Unterstützung und strukturellen Defiziten. In diesem Artikel soll deshalb beleuchtet werden, was wir unter Gewalt in der häuslichen Pflege verstehen, wie häufig sie auftritt und in welchen Formen sie vorkommt. Dabei wird auch der Frage nachgegangen, welche Entlastungs- und Präventionsmaßnahmen helfen können, um einer Gewaltspirale vorzubeugen und ein respektvolles Miteinander zu fördern.
1. Was Gewalt bedeutet
Der Begriff „Gewalt“ ist vielschichtig und lässt sich nicht immer eindeutig definieren. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschreibt Gewalt als ein komplexes Phänomen, das sowohl aktives Handeln (wie Schlagen oder Anschreien) als auch unterlassenes Handeln (beispielsweise Vernachlässigung) umfasst. Auch emotionale und psychische Gewalt – etwa das Herabsetzen, Beschimpfen oder Einschüchtern einer Person – fällt in diesen Bereich. Bei älteren oder pflegebedürftigen Menschen kann sich Gewalt darüber hinaus in der Verletzung ihrer Würde und Selbstbestimmung ausdrücken. Beispielsweise ist es eine Form von Gewalt, wenn einem älteren Menschen, der noch in der Lage wäre, Entscheidungen zu treffen, dieser Entscheidungsspielraum komplett verwehrt wird.
Im Kontext der häuslichen Pflege greifen viele bekannte Definitionen zu kurz, wenn sie lediglich zwischen „Täter“ und „Opfer“ unterscheiden. Natürlich gibt es Fälle, in denen vorsätzlich Gewalt ausgeübt wird. Häufiger jedoch handelt es sich um Eskalationen in extremen Belastungssituationen: Ein pflegender Angehöriger, der sich allein gelassen fühlt und über keinen ausreichenden Zugang zu Unterstützungsangeboten verfügt, gerät an seine Grenzen. Die Frustration oder Verzweiflung kann sich dann in aggressivem Verhalten niederschlagen. Umgekehrt kann auch die pflegebedürftige Person – insbesondere bei demenziellen Veränderungen – Gewalt gegen den Pflegenden ausüben, ohne sich ihres Tuns voll bewusst zu sein. Gewalt in der Pflege entsteht also oft in Strukturen, die eine dauerhaft hohe Belastung erzeugen, ohne dass Ausgleich und professionelle Hilfe in ausreichendem Maß zur Verfügung stehen.
2. Prävalenz „Gewalt in der häuslichen Pflege“
Die Frage, wie häufig Gewalt in der häuslichen Pflege vorkommt, lässt sich nicht einfach beantworten, da es zu Dunkelziffern und fehlender Meldung kommt. Pflegebedürftige Personen schämen sich möglicherweise, darüber zu sprechen, oder fürchten, als „schwierig“ zu gelten und damit ihre familiäre Unterstützung zu verlieren. Pflegende Angehörige wiederum möchten oft nicht eingestehen, dass sie sich im Ausnahmezustand befinden und gewalttätig reagieren, weil dies gesellschaftlich stark tabuisiert ist.
Zahlen aus verschiedenen Erhebungen zeigen jedoch, dass Gewalt keineswegs ein Randphänomen ist. So berichten beispielsweise 45 % der pflegenden Angehörigen, innerhalb der letzten sechs Monate psychische Gewalt in Form von Anschreien, Beleidigen oder Einschüchtern erlebt zu haben. Etwa 11 % geben an, körperliche Gewalt wie Schubsen, Festhalten oder Schlagen erfahren zu haben. Auf der anderen Seite gaben 32 % der Pflegenden zu, selbst psychische Gewalt ausgeübt zu haben, während 12 % von körperlichen Übergriffen und 11 % von Vernachlässigung berichten. Diese Zahlen veranschaulichen die Vielschichtigkeit des Problems: Gewalt kann von beiden Seiten ausgehen und wird meist durch große Überforderung in einem unzureichend unterstützten Pflegearrangement befördert.
Zudem liegen Hinweise vor, dass vor allem die Pflege von Menschen mit Demenz mit einem erhöhten Risiko für gewaltförmiges Verhalten einhergeht. Eine Veränderung des Bewusstseins und der Wahrnehmung bei der pflegebedürftigen Person kann aggressive Reaktionen hervorrufen, die den Pflegenden an seine Grenzen bringen. Umgekehrt können im Umgang mit demenzbedingt verändertem Verhalten auch die pflegenden Angehörigen hilflos reagieren und zu aggressiven Mitteln greifen.
3. Gewalterleben der Angehörigen
Gewalt richtet sich in vielen Fällen gegen die pflegebedürftige Person. Doch die Angehörigen selbst können ebenso Opfer werden. Wird dies in der öffentlichen Diskussion thematisiert, geraten besonders die Pflegenden unter Rechtfertigungsdruck: „Wie kann man seinen Angehörigen Gewalt antun?“ Dabei geht oft unter, dass Angehörige selbst auf vielfältige Weise Gewalt erleben:
- Verbale Gewalt: Pflegebedürftige Personen – insbesondere mit kognitiven Beeinträchtigungen wie einer Demenz – können teils ungefiltert Beleidigungen oder Beschimpfungen äußern. Das trifft die pflegenden Angehörigen hart, zumal es von einer geliebten Person kommt.
- Physische Gewalt: Manche Pflegende berichten, gestoßen oder geschlagen worden zu sein, etwa wenn sie versuchen, die Körperpflege durchzuführen. Die Demenzkranken können die Situation falsch einschätzen oder in Panik geraten.
- Psychische Gewalt durch Dritte: Nicht selten fühlen sich Angehörige, die zu Hause pflegen, von ihrer Umgebung verurteilt oder missverstanden. Wenn dann noch Behörden, Nachbarn oder andere Familienmitglieder Vorwürfe machen oder Druck ausüben („Du machst das alles falsch“), kann das als psychische Gewalt wahrgenommen werden.
- Strukturelle Gewalt: Das Gefühl, von Politik, Gesundheitswesen oder Gesellschaft allein gelassen zu werden, kann eine subtile Form von Gewalt darstellen. Die Betroffenen sind dann oft auf sich gestellt und müssen ihre Pflegesituation ohne ausreichende finanzielle und personelle Hilfen meistern.
Gewalt in der häuslichen Pflege ist also nicht nur ein Phänomen zwischen zwei Akteuren, sondern eingebettet in ein komplexes Gefüge aus familiären, sozialen und institutionellen Faktoren. Angehörige sind sowohl potenzielle „Täter“ als auch potenzielle „Opfer“. Umso bedeutender ist es, die Strukturen zu hinterfragen, die Gewalt begünstigen, und Angebote zu stärken, die Angehörige entlasten.
4. Gewaltformen und Auftreten
Gewalt in der häuslichen Pflege zeigt sich in unterschiedlichen Formen, die nicht immer eindeutig voneinander abgegrenzt werden können. Grundsätzlich lassen sich folgende Kategorien unterscheiden:
- Körperliche Gewalt: Schlagen, Stoßen, grobes Anfassen oder sogar Fixieren. Häufig entsteht diese Form aus einem Gefühl der Überforderung – zum Beispiel, wenn ein Demenzkranker unkontrolliert um sich schlägt oder wegläuft und der Pflegende versucht, ihn festzuhalten.
- Psychische Gewalt: Herabsetzen, Einschüchtern, Beleidigen, Demütigen oder Drohen. Auch das Ignorieren von Wünschen oder Bedürfnissen zählt dazu, sofern es das Gegenüber massiv belastet.
- Sexuelle Gewalt: Jegliche Form von sexuellem Übergriff, unerwünschte Berührungen oder das Erzwingen sexueller Handlungen. Diese Form von Gewalt tritt seltener in Statistiken auf, was jedoch auch an mangelnder Meldung liegen kann.
- Finanzielle Ausbeutung: Unberechtigte Verfügung über das Vermögen des Pflegebedürftigen, Unterschlagung von Renten- oder Pflegegeldern, Nötigung zur Überschreibung von Konten oder Immobilien.
- Vernachlässigung: Das Unterlassen notwendiger Pflegehandlungen, wie Körperpflege, Nahrungs- oder Flüssigkeitszufuhr, Medikamentengabe. Vernachlässigung kann sowohl aus Unwissenheit (fehlende pflegerische Kompetenz) als auch aus Gleichgültigkeit oder Verzweiflung erfolgen.
- Freiheitsentziehende Maßnahmen: Beispielsweise das Einsperren oder Fixieren an Bett oder Stuhl, um die pflegebedürftige Person ruhigzustellen. Solche Maßnahmen sind nur in sehr eng begrenzten medizinischen Ausnahmefällen und mit richterlicher Genehmigung zulässig, werden aber in der Praxis oft aus Angst oder Hilflosigkeit angewandt.
Das Auftreten dieser Gewaltformen ist häufig eng verzahnt. Eine verbale Auseinandersetzung kann sich schnell in eine körperliche Eskalation steigern; Vernachlässigung kann psychische Gewalt beinhalten („Ich kümmere mich nicht mehr um dich, du raubst mir meine ganze Kraft.“). Klar ist: Jede Form von Gewalt ist verletzend und kann langfristige seelische wie körperliche Schäden hinterlassen – bei allen Beteiligten.
5. Erkennungsmerkmale von Gewalt
Viele Gewaltdelikte in der häuslichen Pflege bleiben unerkannt, weil sowohl pflegebedürftige Personen als auch Angehörige aus Scham, Angst oder Unkenntnis schweigen. Dennoch gibt es gewisse Anzeichen, die Außenstehende – etwa Nachbarn, ambulante Pflegedienste oder behandelnde Ärzte – alarmieren sollten:
- Physische Indikatoren: Hämatome, Frakturen, Kratz- oder Bisswunden, auffällige Druckstellen (möglicherweise durch unprofessionelles Fixieren), schlechte Körperhygiene oder Untergewicht, das nicht einer erklärbaren Erkrankung zuzuordnen ist.
- Psychische Signale: Angstzustände, Depression, sozialer Rückzug, starke Verhaltensänderungen, Panikreaktionen bei bestimmten Berührungen oder Worten. Auch eine übermäßige Passivität kann ein Hinweis sein, dass jemand eingeschüchtert oder entmutigt wurde.
- Soziale Anzeichen: Isolation, abrupte Unterbrechung sozialer Kontakte, fehlender Zugang zu Telefon oder Besuch, auffällige Abhängigkeit in Bezug auf Finanzen oder Alltagsgeschäfte.
- Kommunikationsmuster: Gespräche werden von einer Person dominiert, die pflegebedürftige Person kommt kaum zu Wort oder wirkt verängstigt. Manche Angehörige wechseln das Thema, wenn kritische Fragen gestellt werden.
Professionelle Helferinnen und Helfer, aber auch Laien, können durch achtsames Beobachten und gezieltes Nachfragen wichtige Hinweise erhalten. Eine einfühlsame Kommunikation ist dabei essenziell: Betroffene müssen spüren, dass sie sicher sind und Unterstützung erhalten, wenn sie sich öffnen. Hilfreich sind offene Fragen wie „Wie fühlen Sie sich gerade in Ihrer Situation?“ oder „Was belastet Sie besonders?“.
6. Belastungsfaktoren von Angehörigen
Pflegende Angehörige befinden sich oft in einem Spannungsfeld aus persönlicher Verpflichtung, emotionaler Bindung und gesellschaftlichem Druck. Sie pflegen ihre Liebsten, weil sie ihnen helfen möchten, und scheuen oft davor zurück, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Doch die Belastungen sind vielfältig:
- Zeitliche Überforderung: Häufig müssen pflegende Angehörige den Spagat zwischen Berufstätigkeit, Kindererziehung und Pflege leisten. Freizeit, Hobbys oder soziale Kontakte geraten ins Hintertreffen.
- Fehlendes Fachwissen: Angehörige verfügen nicht automatisch über medizinische oder pflegerische Kompetenzen. Kommt dann noch eine Demenzerkrankung hinzu, sind viele mit den veränderten Beziehungsregeln überfordert.
- Finanzielle Sorgen: Die Pflege kann mit hohen Kosten verbunden sein, und nicht alle Leistungen werden ausreichend von der Pflegeversicherung oder anderen Trägern übernommen.
- Emotionale Belastung: Zu sehen, wie ein geliebter Mensch abbaut oder sich persönlich verändert, ist seelisch enorm anstrengend. Bei Demenz werden alte Rollen auf den Kopf gestellt, was Trauer und Hilflosigkeit erzeugen kann.
- Soziale Isolation: Angehörige, die rund um die Uhr pflegen, haben kaum Zeit und Kraft für den persönlichen Austausch mit Freunden oder Bekannten. Das Gefühl, allein zu sein und keine Unterstützung zu haben, verstärkt das Risiko für konfliktträchtige Situationen.
Wenn diese Faktoren zusammenkommen und über längere Zeit anhalten, entsteht eine chronische Überforderungssituation. Unter solchen Bedingungen steigt das Potenzial, dass es zu Gewalt in der häuslichen Pflege kommt – sei es aus Wut, Verzweiflung oder mangelnder Kenntnis von Alternativen.
7. Anzeichen von Überlastung wahrnehmen
Damit es nicht zu einer Eskalation in Form von Gewalt kommt, ist es wichtig, erste Anzeichen von Überlastung zu erkennen – bei sich selbst ebenso wie bei anderen pflegenden Angehörigen. Frühwarnsignale können sein:
- Körperliche Symptome: Schlafstörungen, anhaltende Müdigkeit, Rückenschmerzen, Kopf- oder Magenschmerzen, Herzrasen oder andere Stressreaktionen. Bei hoher Belastung tritt häufig ein Teufelskreis ein, in dem die körperliche Erschöpfung weitere Probleme wie Infektanfälligkeit nach sich zieht.
- Psychische Warnzeichen: Niedergeschlagenheit, Gereiztheit, Stimmungsschwankungen, Gefühle von Ohnmacht, Schuld oder Versagen. Ein dauerhafter „innere Unruhe“-Zustand kann in Gereiztheit oder Aggressivität umschlagen.
- Veränderungen im Verhalten: Die Pflege wird nur noch als Pflichtprogramm betrachtet, es fehlt an Geduld und Einfühlungsvermögen. Manche Angehörige ziehen sich zurück, vermeiden Gespräche oder wirken „abgeschaltet“.
- Soziale Isolation: Wenn Freunde, Nachbarn oder Bekannte spüren, dass Kontaktversuche abgeblockt werden, oder wenn die Pflegeperson kaum mehr das Haus verlässt und keine Auszeiten nimmt, sollte man aufmerksam werden.
Es ist entscheidend, solche Warnsignale nicht zu bagatellisieren, sondern frühzeitig Hilfe zu suchen und anzunehmen. Ein ärztlicher Rat, ein Gespräch mit der Pflegekasse oder die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe können wichtige Entlastungsschritte sein. In manchen Fällen kann auch eine psychotherapeutische Begleitung sinnvoll sein, um den eigenen Gefühlen Raum zu geben und Lösungsstrategien zu entwickeln.
8. Risikofaktoren bei Angehörigen und pflegebedürftigen Personen
Das Risiko, dass es zu Gewaltsituationen kommt, steigt, wenn bestimmte Faktoren bei den Pflegenden und bei den Pflegebedürftigen zusammenfallen. Zu den wesentlichen Risikofaktoren zählen:
-
Pflegende Angehörige mit eigenem Gesundheitsrisiko
Wer selbst krank, depressiv oder stark erschöpft ist, läuft Gefahr, die Pflege mit immer weniger Kraft und Empathie zu bewältigen. Sind bereits psychische Probleme vorhanden, kann der Druck die psychische Stabilität weiter untergraben. -
Mangelnde Unterstützung und fehlendes Netzwerk
Fühlen sich Pflegende allein gelassen, ohne Austausch oder professionelle Hilfe, wächst der Stresspegel und damit das Risiko für gewaltsames Verhalten. Umgekehrt kann ein stabiles Netzwerk aus Nachbarn, Freunden und professionellen Angeboten entlasten. -
Pflegebedürftige mit Demenz oder geistigen Einschränkungen
Menschen mit Demenz können sich nicht mehr klar artikulieren, reagieren mit Verwirrung und Ängsten auf alltägliche Situationen. Dies kann zu aggressiven Ausbrüchen führen. Für die Angehörigen bedeutet das eine besonders herausfordernde Pflegesituation. -
Ungünstige Wohnsituation und fehlende Hilfsmittel
Ist die Wohnung nicht barrierefrei, fehlen Hilfsmittel wie ein Pflegebett, ein Rollstuhl oder ein Badewannenlift, kann dies zu ständigen körperlichen Belastungen und Überforderung führen. -
Finanzielle Engpässe
Können Pflege- und Lebenshaltungskosten nicht ausreichend gedeckt werden, steigt die emotionale Anspannung. Finanzielle Sorgen sind ein häufiger Auslöser für familiäre Konflikte. -
Wenig Wissen über Krankheit und Pflege
Angehörige, die nicht ausreichend über Krankheitsbilder, Pflegeaufgaben und Umgangsstrategien informiert sind, geraten in Stresssituationen schneller in eine Spirale von Angst, Ohnmacht und Frust.
Das Zusammenspiel all dieser Faktoren macht klar, wie leicht Gewalt in der häuslichen Pflege eskalieren kann, wenn vorbeugende Maßnahmen und kontinuierliche Unterstützungsangebote fehlen. Der Schlüsselsatz lautet deshalb: „Nicht die bösen Angehörigen sind das Problem, sondern die Strukturen, in denen sie sich allein gelassen fühlen.“
9. Entlastung, Unterstützung, Fachlicher Rat
Um Gewalt in der häuslichen Pflege vorzubeugen, braucht es ein ganzheitliches Unterstützungssystem. Dies setzt an verschiedenen Punkten an:
Helfende statt strafender Interventionen
Ein zentrales Anliegen in der Prävention von Gewalt ist es, nicht nur strafende, sondern vor allem helfende Interventionen zu ermöglichen. Pflegende Angehörige dürfen nicht das Gefühl haben, kriminalisiert zu werden, wenn sie über ihre Überforderung sprechen. Stattdessen müssen niederschwellige Angebote geschaffen werden, die zügig und unbürokratisch helfen.
Aufbau eines tragfähigen Netzwerks
Pflegende Angehörige brauchen konkrete Entlastung: sei es durch stundenweise Verhinderungspflege, Tagespflegeangebote, ambulante Pflegedienste oder ehrenamtliche Helfer. Mehrgenerationenhäuser, Nachbarschaftshilfen und Wohlfahrtsverbände können Kontakte zu Selbsthilfegruppen oder Gesprächskreisen vermitteln, in denen Erfahrungen ausgetauscht werden können. Solche Gruppen helfen dabei, Überlastung frühzeitig zu erkennen, Strategien zur Deeskalation zu entwickeln und emotionale Unterstützung zu erfahren.
Rechtsrahmen und Schutzmaßnahmen
Gesetzliche Bestimmungen wie das Gewaltschutzgesetz (https://www.gesetze-im-internet.de/gewschg/index.html) bieten Pflegebedürftigen und Pflegenden gleichermaßen einen rechtlichen Schutz. Bei häuslicher Gewalt können zudem zivilrechtliche Maßnahmen ergriffen werden, um beispielsweise eine gewalttätige Person räumlich zu distanzieren. Allerdings greifen diese Mechanismen nur, wenn Gewalt als solche wahrgenommen und gemeldet wird. Hier ist ein offenes Umfeld wichtig, in dem Betroffene vertrauensvoll von Problemen berichten können.
Fachliche Beratung und Screening-Instrumente
Die Inanspruchnahme professioneller Beratung ist ein wichtiger Schritt, um sowohl pflegebedürftige Personen als auch Angehörige zu schützen. Eine hilfreiche Ergänzung kann das Screening-Instrument FARBE (Fragebogen zur Angehörigen-Resilienz und -Belastung) sein, das vom Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) entwickelt wurde (https://www.zqp.de/angebot/fragebogen-farbe/). Mit FARBE können Beraterinnen und Berater erfassen, wie hoch die Belastung eines pflegenden Angehörigen ist und wo seine Resilienzfaktoren liegen. Durch gezielte Maßnahmen lässt sich dann die Widerstandskraft stärken und die Gefahr stressbedingter Krisen reduzieren.
Psychoedukation und Deeskalationstechniken
Pflegende benötigen Handwerkszeug, um im Alltag angemessen reagieren zu können. Rollenspiele, Fallbesprechungen und Schulungen zu Kommunikationstechniken und Deeskalationsstrategien vermitteln Sicherheit im Umgang mit herausforderndem Verhalten. Zum Beispiel lernen Angehörige, Warnsignale einer aufkommenden Aggression früh zu erkennen und ihnen mit klärenden Gesprächen, Atempausen oder räumlichem Rückzug zu begegnen, bevor es zu einem Gewaltausbruch kommt.
Krisentelefone und Notfallkontakte
In akuten Notsituationen können Krisentelefone weiterhelfen. Eine Übersicht bietet das ZQP unter https://www.zqp.de/angebot/krisentelefone/#krisentelefone. Auch die örtlichen Pflegestützpunkte oder Beratungsstellen der Kirchen und Kommunen sind wichtige Anlaufstellen. Im Notfall sollte nicht gezögert werden, auch die Polizei einzuschalten, wenn Gefahr für Leib und Leben besteht.
Pflegeversicherung und finanzielle Hilfen
Um die finanzielle Last zu mildern und den Alltag zu erleichtern, sollte man die Leistungen der Pflegeversicherung umfassend nutzen. Hierzu zählen unter anderem:
- Pflegegeld und Sachleistungen
- Verhinderungspflege (finanzielle Unterstützung für stundenweise Entlastung durch externe Personen)
- Kurzzeitpflege (vorübergehende stationäre Pflege)
- Zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen
- Hilfsmittel (z. B. Pflegebett, Lifter, technische Alltagshilfen)
Die Pflegekassen und private Pflegeversicherungen geben Auskunft über die jeweiligen Ansprüche, ebenso wie kommunale Beratungsstellen und Pflegestützpunkte.
Wohnungsanpassung und strukturelle Verbesserungen
Kleine oder größere Umbaumaßnahmen (rutschfeste Böden, Haltegriffe, barrierefreie Dusche) können den Pflegealltag wesentlich erleichtern und das Risiko von Stürzen reduzieren. Dadurch werden stressige Situationen minimiert, in denen es zu gewaltsamen Handlungen kommen könnte – etwa wenn eine Person mit eingeschränkter Mobilität ständig gestützt oder getragen werden muss.
Selbstreflexion und kollegiale Beratung
Angehörige sollten immer wieder in einen Prozess der Selbstreflexion gehen: „Wo stehe ich gerade? Welche Gedanken und Gefühle belasten mich? Wie gehe ich damit um?“ Moderierte Gesprächsrunden, Supervision oder kollegiale Beratung – etwa in Gruppen für pflegende Angehörige – ermöglichen, Erfahrungen offen zu teilen, Ratschläge einzuholen und sich gegenseitig zu stützen. Auf diese Weise lässt sich das Risiko von Gewalthandlungen deutlich reduzieren.
Praktisches Beispiel: Entschärfung einer Konfliktsituation
Frau M. pflegt ihre demenzkranke Mutter. Diese reagiert oft aggressiv, wenn es um die Körperpflege geht. Frau M. fühlt sich überfordert, weil sie nebenbei noch halbtags arbeitet und zwei Kinder im Teenageralter versorgt. Der Stress wächst, Frau M. wird zunehmend gereizt und schreit ihre Mutter mehrmals an, was die Situation weiter eskaliert. Schließlich sucht sie Hilfe in einer Selbsthilfegruppe und lernt Deeskalationstechniken: Sie erklärt ihrer Mutter vor jeder Pflegesituation, was gleich geschehen wird, vermeidet hastige Bewegungen und spricht ruhig in kurzen Sätzen. Zwischendurch legt sie Pausen ein, wenn beide sich überfordert fühlen. Zudem besorgt sie sich Unterstützung durch einen ambulanten Dienst für ein- bis zweimal die Woche. Ergebnis: Die Konflikte nehmen ab, und Frau M. fühlt sich weniger schuldig. Sie erkennt, dass es vor allem strukturelle Faktoren waren – fehlende Zeit, unzureichende Unterstützung und mangelnde Kenntnisse über Demenz – die ihre Gewaltbereitschaft haben ansteigen lassen.
Fazit
Gewalt in der häuslichen Pflege ist ein vielschichtiges und sensibles Thema, das nicht auf simple Täter-Opfer-Schemata reduziert werden sollte. Häufig geraten pflegende Angehörige in Konfliktsituationen, weil sie mit der Komplexität der Pflege und dem strukturellen Mangel an Hilfeleistungen überfordert sind. Es geht dabei nicht um „böse“ Menschen, sondern um ein System, das ihnen zu wenig praktische und finanzielle Unterstützung bietet, um die Pflege würdevoll und respektvoll zu gestalten. Gewalt kann jedoch verhindert werden, wenn:
- Belastungssituationen frühzeitig erkannt werden – körperliche und psychische Warnsignale einer Überforderung sollten weder verdrängt noch tabuisiert werden.
- Rechtzeitige und passgenaue Hilfe in Anspruch genommen wird – von Beratungsstellen über Krisentelefone bis hin zur Inanspruchnahme von Entlastungsleistungen der Pflegeversicherung.
- Soziale Netzwerke und Nachbarschaftshilfen aktiviert werden – gemeinsamer Austausch und praktische Unterstützung reduzieren Isolation und geben Kraft.
- Professionelle Beratung und Screening-Instrumente wie FARBE eingesetzt werden – sie können Risiken und Ressourcen identifizieren und gezielt intervenieren.
- Deeskalationstechniken und Kommunikation trainiert werden – um Konflikte gar nicht erst eskalieren zu lassen und respektvoll miteinander umzugehen.
Entscheidend ist, dass pflegende Angehörige wissen, dass sie weder allein sind noch sich schämen müssen, Entlastung zu suchen. Ebenso gilt, dass professionelle Einrichtungen und Beratungsstellen genügend Kapazitäten haben, um die Hilfesuchenden kompetent zu begleiten. Nur so lässt sich die Gewaltspirale in der häuslichen Pflege durchbrechen und langfristig eine wertschätzende, gesundheitsfördernde Pflegesituation für alle Beteiligten schaffen.
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