Elderspeak ist Kultur – und Kultur ist Führung

von Tobias Münzenhofer

Warum sprachliche Mikroaggressionen Führungsaufgabe sind – und wie Haltung Kultur verändert.

Elderspeak in der Pflege

Einleitung: Was ist Elderspeak?

Elderspeak bezeichnet ein spezielles Sprechregister gegenüber älteren Menschen, das dem Tonfall und Sprachmuster der Babysprache ähnelt. Typische Merkmale sind ein vereinfachter Satzbau und Wortschatz, überdeutliche oder sing-songartige Prosodie (z.B. höhere Stimmlage, gedehntes Sprechen), Koseformen und Verniedlichungen („Na, haben wir heute schon fein gefrühstückt, mein Schatz?“) sowie die Verwendung kollektiver statt personaler Pronomen (etwa “Wie geht es uns denn heute?” statt “Wie geht es Ihnen?”)[1]. Solche Anpassungen mögen gut gemeint sein, wirken jedoch oft unangebracht. Elderspeak wird daher auch als eine Form des Infantilisierens älterer Menschen verstanden – in der deutschen Literatur sprach Sachweh (1998) von „sekundärer Ammensprache“, während in der internationalen Forschung Begriffe wie “Baby Talk” (Caporael 1981) oder “Patronizing Talk” (Ryan et al. 1991) gebräuchlich waren[2]. Der Begriff “Elderspeak” selbst wurde erstmals Mitte der 1980er geprägt (Cohen & Faulkner 1986)[2]. Heute wird Elderspeak klar als Altersdiskriminierung in der Kommunikation eingestuft – eine unbewusste Überanpassung mit oft negativen Folgen für die Betroffenen[3]. Im Folgenden wird die Studienlage seit den 1980er-Jahren zusammengefasst, und es werden zentrale Erkenntnisse sowie Handlungsempfehlungen für die Pflegepraxis – insbesondere im Langzeitpflege- und Demenzbereich – herausgearbeitet

Forschungsstand seit den 1980er-Jahren: International und deutschsprachig

Historische Entwicklung: Erste wissenschaftliche Beobachtungen des Elderspeak-Phänomens stammen aus den frühen 1980er-Jahren in den USA. So zeigte Caporael (1981) in einem Pflegeheim, dass etwa 22 % der Äußerungen von Pflegekräften gegenüber Bewohnern eindeutig “Babytalk”-Charakter hatten. Auffällig war, dass dieser Babystil zu drei Vierteln kaum von der Sprache zu Kleinkindern zu unterscheiden war[4]. Kurz darauf bestätigten weitere US-Studien diese Simplifizierungstendenzen in der Altenpflege (Ashburn & Gordon 1981; Culbertson & Caporael 1983)[4]. Unklar war zunächst, wie ältere Menschen selbst darauf reagierten: Einige Heimbewohner bevorzugten die verniedlichende Ansprache sogar gegenüber neutralem Tonfall, während andere sie als störend empfanden[5]. Diese gemischten Befunde führten jedoch rasch zur Hypothese, dass es sich bei Elderspeak um eine übermäßige kommunikative Anpassung aufgrund von Altersstereotypen handelt, die negative psychosoziale Auswirkungen haben kann[5].

Theorie und Begriffsbildung: Vor diesem Hintergrund entwickelten Ryan et al. (1995) das Communication Predicament of Aging Model (CPAM)[6][7]. Dieses Modell beschreibt, wie sichtbare Alterszeichen (z.B. graue Haare, gebrechliches Auftreten) bei jüngeren Kommunikationspartnern stereotype Annahmen von Senilität oder Hilfsbedürftigkeit aktivieren. In Folge überakkommodieren sie ihre Sprache – sie sprechen überdeutlich, vereinfacht und bevormundend. Diese Form der Überanpassung wird von älteren Erwachsenen meist negativ wahrgenommen, was die Kommunikation beeinträchtigt und letztlich die negativen Altersstereotype auf beiden Seiten verstärken kann[7]. In Großbritannien griffen Coupland et al. (1988) diese Mechanismen auf und verorteten Elderspeak als extremes Beispiel der Communication Accommodation Theory, also einer fehlgeleiteten Anpassung der Sprache an ältere Gesprächspartner[8]. Hummert und Ryan (1996) differenzierten außerdem zwischen einem kontrollierenden versus fürsorglichen Motiv in der Patronisierung: Elderspeak könne sowohl dominant-direktiv als auch scheinbar liebevoll ausfallen – häufig sogar beides zugleich, indem Befehle im sanften Kose-Ton verpackt werden[9]. Ein Beispiel wäre: „Stellen Sie sich jetzt hin, wären Sie so lieb, Schätzchen?“ – hier wird Autorität ausgeübt, aber durch kindliche Sprache kaschiert[9]. Solche theoretischen Konzepte haben das Verständnis von Elderspeak seit den 1990ern geprägt.

Umfang der Forschung: In den folgenden Jahrzehnten wuchs die internationale Studienlage erheblich an. Brown und Draper (2003) identifizierten in einem systematischen Review bereits 24 Studien zum Thema und stellten fest, dass ältere Erwachsene Elderspeak überwiegend als bevormundend empfinden – wenngleich einzelne Fälle es als „fürsorglich“ missdeuten[10]. Bis 2020 wurden insgesamt über 80 wissenschaftliche Veröffentlichungen zu Elderspeak herausgegeben[11][12]. Darunter befinden sich sowohl quantitative Untersuchungen – z.B. 17 Beobachtungsstudien in Pflegeeinrichtungen und 18 experimentelle Studien im Labor – als auch qualitative Studien (13 ethnografische Analysen) sowie Interventionsstudien[13]. Die meisten Arbeiten stammen aus dem englischsprachigen Raum (USA, Kanada, UK, Australien), doch es liegen auch einige Studien in anderen Ländern vor, darunter deutschsprachige Forschungsprojekte.

Deutschsprachige Forschung: Die Phänomene des Elderspeak wurden in Deutschland erst Ende der 1990er genauer beleuchtet. Ein wichtiger Beitrag stammt von Sabine Sachweh (1998), die in einer Studie in deutschen Altenheimen die Nutzung von Babytalk durch Pflegekräfte beschrieb. Sie prägte dafür den Begriff „sekundäre Ammensprache“ und zeigte, dass deutsche Pflegekräfte ähnliche Patronisierungsmuster an den Tag legen wie international beobachtet[14]. Interessanterweise bewerteten die deutschen Seniorinnen in Sachwehs Untersuchung die verniedlichende Sprache nicht einhellig negativ – möglicherweise, weil sie sie als Teil des Heimalltags internalisiert hatten[15]. Neuere Studien aus dem deutschsprachigen Raum bestätigen jedoch die problematischen Aspekte. Schnabel et al. (2020) untersuchten Elderspeak in zwei deutschen Akutkrankenhäusern und fanden häufige Vorkommen der typischen Sprechmerkmale: So enthielten 61 % der analysierten Pflegegespräche Verniedlichungen, 70 % nutzten Wir-Ansprachen und sogar 97 % Tag-Fragen („…, nicht wahr?“)[16][17]. Interessanterweise zeigte sich dabei, dass nicht allein kognitive Beeinträchtigung der Patienten Elderspeak auslöste, sondern vor allem funktionale Einschränkungen: Je hilfebedürftiger die Person im Alltag war, desto eher verfielen Pflegekräfte in den infantilisierenden Ton[18]. Diese Befunde deuten darauf hin, dass Pflegepersonen – möglicherweise unbewusst – vor allem sichtbare Pflegebedürftigkeit* als Auslöser nehmen, in einen betuttelnden Sprechstil zu wechseln.

Auch in Österreich und der Schweiz ist man auf das Thema aufmerksam geworden, wenn auch mit geringer empirischer Basis. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass Elderspeak als universelles Phänomen in der Pflegekommunikation gilt, das kulturübergreifend auftritt, sobald Altersstereotype und Hierarchien zwischen Pflegenden und alten Menschen eine Rolle spielen. Die deutschsprachige Pflegewissenschaft hat in den letzten Jahren begonnen, dieses Feld intensiver zu bearbeiten, etwa durch Entwicklungsarbeiten wie das EldAS-Projekt an der LMU München. In diesem Projekt “Elderspeak im akutstationären Setting (EldAS)” wurden Instrumente zur Messung von Elderspeak entwickelt, z.B. ein Fragebogen, der typische Ausdrucksweisen und Wörter erfasst[19]. Solche Arbeiten tragen dazu bei, Elderspeak auch hierzulande als relevantes Problem in der klinischen Kommunikation anzuerkennen und systematisch anzugehen.

Elderspeak in der Langzeitpflege: Auswirkungen auf dementiell erkrankte und geriatrische Patienten

Besonders in der Langzeitpflege – etwa in Pflegeheimen, gerontopsychiatrischen Abteilungen oder bei der Betreuung von Menschen mit Demenz – spielt Elderspeak eine erhebliche Rolle. Hier treffen oft jüngere Pflegende auf sehr alte, kognitiv oder körperlich eingeschränkte Bewohnerinnen, was die genannten Stereotype und Kommunikationsmuster begünstigt. Die Forschung der letzten 15 Jahre hat eindrücklich gezeigt, dass Elderspeak in diesem Kontext nicht harmlos ist, sondern nachweislich negative Folgen* für die Betroffenen haben kann.

Resistenz und Pflegeverweigerung: Eines der am besten dokumentierten Probleme ist die Zunahme von resistivem Verhalten – also Widerstand, Aggression oder Verweigerung gegenüber pflegerischen Maßnahmen – wenn Bewohner mit Elderspeak angesprochen werden. In einer vielbeachteten Studie filmten Williams et al. (2009) 80 Pflegeinteraktionen mit Demenzkranken und analysierten, wie sich der Sprechstil der Pflegekräfte auf die Reaktionen der Bewohner auswirkte. Das Ergebnis war eindeutig: Wurde Elderspeak verwendet, stieg die Wahrscheinlichkeit für resistives Verhalten der dementiell erkrankten Person auf 55 %, verglichen mit nur 26 % bei normaler, respektvoller Ansprache[20]. Mit anderen Worten: Die Gefahr, dass eine Bewohnerin sich weigert, die Pflege zuzulassen – etwa das Waschen oder Anziehen – verdoppelt sich nahezu unter Elderspeak-Bedingungen[20]. Dieses Ergebnis ist insofern dramatisch, als Pflegeverweigerung nicht nur die Beziehung belastet, sondern auch die Versorgung erschwert und das Verletzungsrisiko für beide Seiten erhöhen kann. Zudem müssen Einrichtungen bei häufig auftretender Aggression oder Verweigerung mit höherem Personalaufwand und in letzter Konsequenz mit vermehrtem Einsatz von Beruhigungs- oder Psychopharmaka reagieren. Tatsächlich zeigte eine anschließende Auswertung der genannten Studie, dass in Einrichtungen, in denen Elderspeak gezielt reduziert wurde, der Einsatz von Antipsychotika zur Beruhigung von Bewohnern sank[21]. Dies unterstreicht, wie stark Sprache und Verhalten in der Pflege zusammenhängen und dass eine vermeintlich kleine Änderung im Kommunikationsstil erhebliche Auswirkungen auf das Eskalationsrisiko haben kann.

Verwirrtheit und kognitive Auswirkungen: Ein oft genanntes Ziel von Elderspeak ist es, durch einfachere Sprache die Verständlichkeit für alte oder kognitiv eingeschränkte Menschen zu verbessern. Doch paradoxerweise kann das Gegenteil eintreten: Übertriebene Prosodie und übermäßige Simplifizierung können zu Verwirrtheit und schlechterem Verständnis führen. Experimente haben gezeigt, dass einzelne sprachliche Vereinfachungen zwar nützlich sein können – etwa kürzere Sätze oder Wiederholungen von Schlüsselinfos – während überzogene Intonation und Singsang eher schaden. In einer Studie verglichen Kemper & Harden (1999) etwa verschiedene Sprechweisen bei der Anleitung älterer Menschen. Langsameres Sprechen und einfachere Grammatik verbesserten zunächst das Verständnis. Wurde jedoch zusätzlich ein hoher, säuselnder Tonfall mit übertriebenem Sprechrhythmus eingesetzt, verschlechterte sich das Verstehen wieder deutlich, trotz der einfachen Worte[22][23]. Offenbar negiert der babytalk-Ton den Nutzen der inhaltlichen Simplifizierung. Ähnlich fand man bei Menschen mit Demenz, dass ein stark erhöhter Stimmumfang der Pflegekraft (also große Schwankungen zwischen hoher und tiefer Stimme, wie sie im Kose-Ton auftreten) mit geringerer Verständlichkeit einherging[24]. Verwirrtheit und Missverständnisse können die Folge sein, wenn der Kommunikationsstil ungewohnt oder bevormundend klingt. Hinzu kommt ein physiologischer Aspekt: Eine Studie beobachtete bei älteren Probandinnen unter Elderspeak-Bedingungen einen Anstieg des Stresshormons Cortisol, was auf eine unbewusste Stressreaktion des Körpers hindeutet[24]. Die Kombination aus kognitiver Verunsicherung und emotionalem Stress kann das Gefühl der Überforderung (“Was will die Pflegerin eigentlich von mir?”) verstärken. Somit trägt Elderspeak eher zu Desorientierung und Anspannung* bei, anstatt die Kommunikation zu erleichtern.

Würdeverlust und Beziehungsschaden: Neben den messbaren Verhaltensauswirkungen betonen viele Studien die subtileren, aber ebenso wichtigen psychosozialen Folgen von Elderspeak. Die Würde älterer Menschen kann durch einen infantilisierenden Ton verletzt werden. Auch wenn es oft gut gemeint ist, signalisiert Elderspeak dem Gegenüber unbewusst: “Du bist nicht voll zurechnungsfähig, man muss mit dir reden wie mit einem Kind.” Ältere Erwachsene empfinden dies verständlicherweise als herabwürdigend. In Befragungen gaben sowohl selbstständig lebende Seniorinnen als auch Pflegeheimbewohnerinnen an, dass sie die verniedlichende Ansprache nicht mögen und jene Pflegepersonen als weniger respektvoll, warm und kompetent einschätzen, die so mit ihnen reden[25]. Hummert & Mazloff (2001) zeigten deutlich, dass ältere Menschen Elderspeak als patronisierend wahrnehmen und es ihre Beziehung zu den Sprechenden belastet[25]. Interessant ist, dass jüngere Beobachter diese Kommunikation oft noch kritischer sehen als die älteren Betroffenen selbst – in Experimenten bewerteten junge Erwachsene Elderspeak sogar als deutlich patronisierender als alte Erwachsene dies taten (Edwards & Noller 1993; Giles et al. 1993)[26]. Dies mag daran liegen, dass manche ältere Menschen versuchen, den guten Willen hinter der Babysprache zu sehen, oder sich aus Höflichkeit nicht beschweren. Nichtsdestotrotz bestätigen auch die meisten Seniorinnen, dass sie eine normal höfliche, erwachsenen-adäquate Ansprache vorziehen und “Betüttelung” ablehnen (Whitbourne et al. 1995)[25]. Wenn etwa ein demenzkranker Bewohner ständig mit “Brav gemacht, mein Junge!” gelobt oder mit “Wir machen uns jetzt sauber, ja?” angesprochen wird, kann dies das Gefühl persönlicher Entmündigung hervorrufen. Die Person fühlt sich nicht ernst genommen, was das Selbstwertgefühl untergräbt. Langfristig können solche Erfahrungen zu Rückzug, Depressivität oder Aggression beitragen, was wiederum die Pflegebeziehung massiv stört. In der Gerontologie wird darauf hingewiesen, dass Elderspeak eine Form von ageism (Altersvorurteil) ausdrückt und damit die Gleichwürdigkeit älterer Menschen verletzt (Gendron et al. 2016) – ein Umstand, der dem Prinzip der person-zentrierten Pflege* fundamental entgegensteht[27].

Zusammenfassend ist die Evidenzlage eindeutig: Elderspeak schadet mehr als dass es nützt, vor allem in der Langzeitpflege und im Umgang mit vulnerablen Gruppen wie Demenzpatientinnen. Obwohl die Vereinfachungen in der Sprache scheinbar helfen sollten, zeigen die Studien, dass negative Wirkungen – von Verständniseinbußen bis zu Verhaltensauffälligkeiten – überwiegen. Elderspeak erfüllt in der Praxis oft eher eine psychologische Funktion für die Pflegekraft (aus Unsicherheit oder dem Impuls zu “bemuttern”*) als einen echten kommunikativen Nutzen für die ältere Person.

Konsequenzen für die Pflegepraxis und Führung

Angesichts der umfangreichen Forschungsergebnisse lassen sich klare Empfehlungen formulieren. Für eine zeitgemäße, würdevolle Altenpflege ist es zentral, Elderspeak zu erkennen, zu vermeiden und durch bessere Kommunikationsstrategien zu ersetzen[27]. Dies erfordert sowohl individuelle Verhaltensänderungen bei Pflegekräften als auch strukturelle Maßnahmen seitens der Führung.

Person-zentrierte Kommunikation: Anstelle von pauschal vereinfachter Schmuse-Sprache sollte die Devise lauten, individualisiert und respektvoll zu kommunizieren. Das bedeutet, die Ansprache stets an den aktuellen Bedarf und die Fähigkeiten der betreffenden Person anzupassen – nicht an stereotype Annahmen über “alle Alten”[28]. Das Communication Enhancement Model (Ryan et al. 1995) betont genau dies: Pflegende sollen zwar notwendige sprachliche Anpassungen vornehmen (z.B. langsam sprechen, deutlich artikulieren), jedoch ohne Patronisierung und basierend auf tatsächlichen Hinweisen, was die Person versteht[28]. Konkret heißt das: Wenn eine Bewohnerin kognitiv fit ist, spricht nichts gegen eine ganz normale Ansprache in üblichem Erwachsenenton. Ist jemand leicht schwerhörig, kann man lauter und in kurzen Sätzen sprechen – aber weiterhin in würdigem Tonfall, ohne Babysprache. Wichtig ist, die ältere Person als Gesprächspartner auf Augenhöhe zu behandeln. Dazu gehört auch, sie mit dem Namen oder der gewünschten Anrede anzusprechen statt mit generellen Kosenamen (“Guten Morgen, Frau Wagner” statt “Na, Oma Schäfchen, ausgeschlafen?”). Person-zentrierte Kommunikation bedeutet ferner, aktiv zuzuhören, auf Äußerungen der Seniorinnen einzugehen und Konversation als zweiseitigen Austausch zu gestalten, anstatt in einen dozierenden oder betüddelnden Monolog zu verfallen. Pflegekräfte sollten sich bewusst machen, dass implizite Vorurteile über Alter und Demenz ihre Sprache beeinflussen können[27]. Durch Reflexion und Training können sie lernen, diese unbewussten Biases zu kontrollieren und ihre Kommunikation zu kalibrieren* – freundlich und klar, aber nicht herablassend.

Fortbildung und Sensibilisierung des Personals: Die wissenschaftlichen Befunde legen nahe, dass Fortbildungen ein wirksamer Hebel ist, um Elderspeak in Einrichtungen zu reduzieren. Williams et al. (2017) entwickelten z.B. ein Trainingsprogramm für Pflegeheime, das Mitarbeitende darin schulte, elderspeak-hafte Elemente in ihrer Sprache zu erkennen und zu vermeiden. Die Ergebnisse waren beachtlich: Nach der Intervention sank der Anteil an Elderspeak-Äußerungen der Pflegenden um durchschnittlich 13,6 Prozentpunkte, und parallel ging die Resistenz der demenzkranken Bewohner um 15,3 Punkte zurück[29]. Dies zeigt, dass viele Pflegekräfte nicht absichtlich bevormundend sprechen, sondern aus Gewohnheit oder Unsicherheit – und dass sie ihr Verhalten ändern können, sobald ihnen die Auswirkungen bewusst gemacht werden. Fortbildungen sollten daher fester Bestandteil der Personalentwicklung in der Altenhilfe sein. In solchen Trainings kann anhand von praktischen Beispielen und Rollenspielen geübt werden, wie man anders formuliert: Etwa anstelle einer Frage mit vorweggenommener Antwort („Das war aber lecker, nicht wahr?“) lieber eine offene Frage stellt („Wie hat Ihnen das Essen geschmeckt?“). Oder statt im Pluralis Majestatis („Jetzt gehen wir mal ins Bad”) klar zu sagen, was passiert („Ich begleite Sie jetzt ins Badezimmer, damit Sie sich frisch machen können.”). Auch der Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Demenz – oft ein Kreislauf, der durch missglückte Kommunikation ausgelöst wird – sollte in Fortbildungen thematisiert werden. Pflegepersonen können lernen, deeskalierend zu sprechen, ohne zu bevormunden: zum Beispiel indem sie Wahlmöglichkeiten geben, Ich-Botschaften verwenden (“Ich möchte Ihnen gerne helfen” statt “Du musst jetzt lieb sein”) und beruhigende nonverbale Signale einsetzen (Lächeln, sanfte Gesten), ohne in einen kindlichen Tonfall zu verfallen. Wichtig ist auch, dass neue Mitarbeiter*innen von Anfang an für das Thema sensibilisiert werden und positive Vorbilder im Team erleben.

Organisationskultur und Führungsverantwortung: Damit solche Kommunikationsprinzipien nachhaltig gelebt werden, kommt der Pflegeleitung und dem gesamten Management eine entscheidende Rolle zu. Führungskräfte in der Pflege sollten das Ziel einer wertschätzenden, altersangemessenen Sprache klar kommunizieren und selbst vorleben. Es empfiehlt sich, Elderspeak bzw. angemessene Sprache zum Bestandteil der Qualitätsstandards der Einrichtung zu machen. Zum Beispiel können Leitlinien erstellt werden, die in der Pflegephilosophie festhalten: „Wir begegnen unseren Bewohnerinnen und Bewohnern sprachlich auf Augenhöhe – Kosenamen und Babysprache werden vermieden.” Solche Leitbilder müssen natürlich mit Leben gefüllt werden. Hier ist die Vorbildfunktion der Stations- und Pflegedienstleitungen zentral: Wenn erfahrene Fachkräfte und Vorgesetzte in Stresssituationen respektvoll und ruhig kommunizieren, strahlt das auf das gesamte Team aus. Feedback-Kultur spielt ebenfalls eine Rolle – Pflegende sollten sich gegenseitig konstruktiv rückmelden dürfen, falls jemand unbewusst ins Elderspeak verfällt. Dieses Thema kann auch in Teambesprechungen oder Fallbesprechungen aufgegriffen werden, um Beispiele zu reflektieren (“Wie hätten wir Frau X noch anders motivieren können, statt ‚Brav so, jetzt gib fein das Händchen…‘ zu sagen?”). Einige Einrichtungen integrieren Kommunikationschecks in ihre Pflegevisiten oder Supervisionen, um Sprachmuster zu beobachten und Verbesserungen anzustoßen. Darüber hinaus sollten Führungskräfte darauf achten, genügend Zeitressourcen für die Kommunikation einzuplanen. Oft entsteht Elderspeak nämlich aus Zeitdruck: In der Eile verfallen Pflegende in ein stereotypes Muster (“so, hoppla hopp, Schätzchen”) anstatt sich die Zeit für einen normalen, erklärenden Dialog zu nehmen. Eine gute Personalbemessung und Arbeitsorganisation, die kommunikative Zuwendung als Bestandteil der Pflegearbeit begreift, ist daher eine strukturelle Voraussetzung, um Elderspeak einzudämmen.

Zusammenarbeit mit Angehörigen und Öffentlichkeit: Schließlich sollten auch Angehörige und die allgemeine Öffentlichkeit für die Problematik sensibilisiert werden. Altersdiskriminierende Sprache findet sich nicht nur in Pflegeheimen, sondern überall in der Gesellschaft – am Empfang der Klinik, in Bus und Bahn, ja sogar in der Werbung. Pflegeeinrichtungen können hier eine Vorreiterrolle übernehmen, indem sie nach außen kommunizieren, dass Würde und Respekt in der Sprache unverzichtbar sind. Angehörige, die zu Besuch kommen, könnten durch Flyer oder Gespräche darauf hingewiesen werden, warum Sätze wie “Na, wer ist denn heute unser braver Opi?” unangebracht sind. Stattdessen kann man sie ermutigen, ihre Mutter oder ihren Onkel so anzusprechen, wie sie es zeitlebens gewohnt waren. Dieses Bewusstsein hilft, ein Umfeld aufzubauen, in dem ältere Menschen als Erwachsene behandelt werden – unabhängig von ihren Einschränkungen.

Fazit

Elderspeak ist mehr als nur eine Marotte im Pflegealltag – es ist ein Ausdruck von Altersstereotypen, der die Kommunikation und Beziehung zwischen Pflegepersonal und älteren Menschen erheblich belasten kann. Die wissenschaftliche Evidenz seit den 1980er-Jahren – aus den USA, Großbritannien, Australien und auch aus dem deutschsprachigen Raum – zeigt übereinstimmend, dass ein infantilisierender Kommunikationsstil zwar gut gemeint sein mag, aber überwiegend negative Konsequenzen hat: von Verständnisschwierigkeiten und Verwirrtheit über Pflegeverweigerung bis hin zu einem Gefühl des Entwürdigtwerdens bei den Angesprochenen. In der modernen Altenpflege, die sich an Konzepten wie Würdezentrierung und personzentrierter Care orientiert, hat Elderspeak daher keinen Platz mehr. Akademisch geschulte Führungskräfte in der Pflege sind aufgerufen, dieses Wissen in die Praxis zu tragen: durch Schulung ihrer Teams, durch eigenes Vorbild und durch Schaffung einer Organisationskultur, die respektvolle Kommunikation fördert. Letztlich bedeutet der Verzicht auf Elderspeak nicht, kühl oder unpersönlich mit alten Menschen zu reden – im Gegenteil: Es geht darum, echtes Einfühlungsvermögen zu zeigen, indem man dem Gegenüber sprachlich die volle Wertschätzung und Erwachsenwürdigkeit zukommen lässt. Wie die Forschung nahelegt, profitieren davon beide Seiten: Die älteren Menschen fühlen sich ernstgenommen und reagieren kooperativer, und die Pflegequalität steigt, weil die Beziehungsebene stimmt. Es lohnt sich also, die eigenen Sprachgewohnheiten zu hinterfragen und den Mut aufzubringen, liebevolle Zuwendung ohne Babysprache zu praktizieren. Dies ist ein wichtiger Schritt, um Alter und Würde im Pflegealltag miteinander in Einklang zu bringen.

Literatur: Brown & Draper (2003); Caporael (1981); Coupland et al. (1988); Herman & Williams (2009); Hoffmann et al. (2025); Hummert & Ryan (1996); Kemper & Harden (1999); Ryan et al. (1995); Sachweh (1998); Schnabel et al. (2020); Williams et al. (2009, 2017);

 

Tobias Münzenhofer

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