Fallbesprechung und Verstehenshypothese im Team bei Menschen mit Demenz (Teil I)

von Tobias Münzenhofer

Verstehenshypothese im Team, als Chance für Haltung und Entwicklung

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Den persönlichen Ausgangspunkt (→ Annahmen über Menschen mit Demenz) reflektieren, die Selbstwirksamkeit der Pflegebedürftigen wahrnehmen und ihnen diese erfahrbar machen.

- Die Verstehende Diagnostik Verstehenshypothese geht viel tiefer und wirkt nachhaltiger als gutgemeinte theoretische Modelle, Methoden und pauschale Kommunikationsregeln.

Ein auf Funktions- und Verrichtungspflege ausgerichtetes Arbeits- und Demenzmilieu was sich nur nach Methoden, Modelle, Regeln und Anweisungen orientiert erschwert die Entwicklung einer gemeinsamen Sorgehaltung und Verantwortung.

Erfahrene Pflege- und Betreuungskräfte möchten selbst entscheiden dürfen. Pflege- und Betreuungskräfte wollen auch kreativ sein, gestalten, sich selbst entdecken, Verantwortung übernehmen und sich selbstwirksam fühlen!

 

Bei MmD (Menschen mit Demenz) werden Gefühle der Sicherheit und Geborgenheit erschüttert, aufgrund von Unsicherheiten, erlebter Bedrohung und Trennungssituationen. Durch Beziehungsgestaltung kann dem MmD hier begegnet werden; die empfundene Lebensqualität verbessert sich.

Durch person-zentrierte Interaktions- und Kommunikationsangebote kann die Beziehung zwischen MmD und allen daran beteiligten Personen erhalten und gefördert werden.

Person-Zentrierung ist ein Verständnis von Umgang mit Demenz, bei dem die Anerkennung der Einzigartigkeit und der Individualität der Person als wesentliche Voraussetzung für das Wohlbefinden angesehen wird.

Zu den Voraussetzungen gelingender Interaktionen gehören der Respekt und die Anerkennung seiner Einzigartigkeit als Mensch und nicht seine Klassifizierung und möglicherweise Stigmatisierung als Demenzkranker.

Ob diesem person-zentrierten Ansatz und gewollter Praxis hierbei eine stetig steigende Anzahl von weiteren theoretischen Modellen, Methoden, Umgangsformen und speziellen Kommunikationsregeln hilfreich ist? Ob es mit diesen pragmatischen Lösungen in jeder Situation gelingt, auch im gegenwärtigen personalen Gegenüber, der Interaktion, noch selbst authentisch wahrgenommen zu werden?

MmD sind sehr empfindsam für unseren eigenen Gefühlsausdruck und können uns diesen innerhalb weniger Sekunden widerspiegeln. Dabei geht es nicht um Gesprächsinhalte.

Das „Wie“ entscheidet ob man als jemand wahrgenommen wird, der einem Sicherheit und Geborgenheit vermittelt. Hierbei spielt die eigene Authentizität eine große Rolle. Der Glaube, dass hier z. B. Kommunikationsmodelle hilfreich sein können, verliert sich in der Praxis immer dann, wenn diese nach der bewussten Klassifizierung und Stigmatisierung dem Krankheitsbild „Demenz“ eingesetzt werden.

Validationsmethoden und die Deeskalation als Haltung aus einem tiefen Verständnis heraus verinnerlicht, soll allgegenwärtig gemeinsam gelebt werden können und nicht regelhaft angewandt in der konkreten Situation. Dafür braucht es Zeit für die (Team-) Entwicklung sowie deren Unterstützung und Begleitung.

Wir alle handeln im Hier und Jetzt überwiegend intuitiv und nach Gefühl. Dieses intuitive Handeln baut auf zumeist verborgene Kompetenzen und Erfahrungen auf.

Das heißt, dass unsere gegenwärtige Interaktion, Kommunikation und unser Verhalten überwiegend unbewusst abläuft und nur mit einem sehr geringen Anteil z. B. auf spezielle im Ablauf festgelegte Kommunikationsmethoden oder anderen Umgangsformen wie Regeln zurückgreift.

Menschen unterscheiden sich in ihrem unterschiedlichen Ausmaß an dem hierfür notwendigen Einfühlungsvermögen, das als eine angeborene Persönlichkeitskomponente aufgefasst werden kann.

Einfühlendes Verhalten erfordert eine Minderung der inneren und äußeren Stressoren, da andernfalls Minderleistungen im Bereich des einfühlenden Verhaltens zu erwarten sind.

Einfühlungsvermögen oder Empathie besteht aus dem Prozess: Wahrnehmen, Erkennen, Mitfühlend und helfend eingreifen, was schnell und unbewusst abläuft.

Unbewusstes und automatisches ablaufendes einfühlendes Verhalten kann sowohl für die MmD als auch für die Pflegenden mit negativen Auswirkungen (u. a. tätliche Aggression) verbunden sein. Es gilt hierbei, bestimmte Regeln zu beachten, die durch Erfahrungen schnell verinnerlicht werden.

Pflegekompetenzen werden permanent durch neues Lernen an eigenen Erfahrungen, aber auch an den fremden Erfahrungen, an Fällen - auch an Zwischenfällen, an Wahrnehmungen und Reflexionen ausgebaut und vervollständigt.

  • Berufsanfänger verfügen über keinerlei Erfahrung in der direkten Interaktion mit MmD. Ihr Können ist hier auf Regelvorgaben angewiesen, an denen sie ihr Verhalten ausrichten ohne Beachtung des Kontextes.
  • Fortgeschrittene Anfänger verfügen über erste Erfahrungen, erkennen verschiedene Aspekte von Situationen und deren wiederkehrende, bedeutungsvolle Bestandteile (Mindestleistungen werden erbracht, sie benötigen aber noch Hilfestellung beim Setzen von Prioritäten).
  • Kompetente Pflegendesind in der Lage Probleme analytisch zu betrachten, verschiedene Sichtweisen zu entwickeln und Handlungen auf längerfristige Ziele oder Pläne auszurichten, es erfolgen erste Verstehenshypothesen. Haltung, Ideologie und Pflegephilosophie bildet sich aus.
  • Erfahrene Pflegende nehmen Situationen als Ganzes wahr. Ihre Wahrnehmung ist geschult, Abweichungen und der Kern der herausfordernden Verhaltensweisen bei MmD werden erkannt, Wichtiges von Unwichtigem unterschieden. Das Handeln wird an Grundsätzen ausgerichtet und nicht mehr ausschließlich an theoretischen Vorgaben.
  • Demenzexperten besitzen eine hohe Sicherheit in der Wahrnehmung, Situationen werden intuitiv erfasst und eine angemessene Handlung ohne umständliche Alternativlösungen angeleitet, sie benötigen keine expliziten Regeln und Richtlinien mehr. Wissen und Erfahrung sind untrennbar und intuitiv verfügbar miteinander verbunden. Hier kann man tatsächlich von Haltung sprechen.

Pflege- und Betreuungskräfte werden nach mindestens 2-3 Jahren Berufserfahrung zu „Kompetent Pflegenden“. Um diese 3. Kompetenzstufe zu erreichen und sich darin weiterentwickeln können, benötigt man Zeit für regelmäßige Reflektion des eigenen Handelns, über Ursache und Wirkung.

Für diesen Prozess benötigt das Pflege- und Betreuungsteam geeignete Möglichkeiten für den gemeinsamen Austausch und Reflektion. Bewusstwerden eigener Fähigkeiten und Wirkung in der Beziehungsgestaltung geschieht am besten in Teamarbeit. Wissensbestände, Unterstützungs- und Bildungsbedarfe werden erkannt, definiert und ausgetauscht.

Das Team benötigt hierzu Rahmenbedingungen um im ersten Schritt den persönlichen Ausgangspunkt (→ Annahmen über MmD) reflektieren zu können. Die Selbstwirksamkeit der pflegebedürftigen Menschen wird so im zweiten Schritt wahrgenommen und durch gezielte Angebote der Interaktion dem MmD im dritten Schritt erfahrbar gemacht.

Wenn das Team befähigt ist, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen und die Welt aus Sicht der MmD betrachten kann, erhöht sich die Chance auf den Aufbau einer tragfähigen Beziehung.

Im Zentrum des Pflegeprozesses steht nicht mehr die Planung, sondern die Entwicklung einer Verstehens­hypothese im Rahmen einer gemeinsamen Fallbesprechung, welche eine geeignete Möglichkeit der Reflektion des pflegerischen Handelns darstellt.

Um den Unterstützungsbedarf bei MmD im interdisziplinären Team feststellen zu können, werden gesammelte Informationen und Beobachtungen anhand eines bedürfnisorientierten Verhaltensmodells zusammengeführt:

  • Wie erlebe ich mich selbst als Person in dieser Beziehung. Welche Rolle fühle ich / möchte ich?
  • Wie erlebt die Person sich selbst und ihre Umwelt?
  • Welches Denken, Fühlen und Erleben erklärt den subjektiven Sinn von Verhaltensweisen?
  • Was ist deren Funktion?
  • Auf welche Themen ist das Verhalten eine Antwort?

Aus diesen Antworten entwickelt sich eine vorläufige Hypothese → Verstehenshypothese.

Diese wird auf Stimmigkeit hin überprüft und mit neu gewonnenen Informationen abgeglichen um sie zu bestätigen, zu verändern und weiter zu entwickeln.

Hierbei muss die Möglichkeit bestehen, stets auf fluktuierende Zustände, also Schwankungen im Demenzerleben reagieren zu können!

Wichtig ist hier die kritische Reflektion, weil die Verletzung sozialer Normen und Verhaltenserwartungen bei MmD zu Stress und zumeist unbewussten Distanzierungen führt.

MmD könnten so teilweise korrigiert, erzogen oder (unbewusst) vernachlässigt werden

Die Beschreibung des Verhaltens und die Suche nach Ursachen sind die ersten beiden Schritte der Verstehenden Diagnostik des Verhaltens.

Hierzu werden vielfältige Informationen über den MmD über die Umgebung und über die Beziehungen zu den pflegenden Personen benötigt.

Da die Erklärungssuche für das Verhalten nicht einfach ist und je nach Informationsstand und Perspektive unterschiedlich ausfallen kann, werden Fallbesprechungen als eine vielversprechende Methode für die Durchführung der Verstehenden Diagnostik empfohlen.

Fallbesprechung und Verstehenshypothese bei Menschen mit Demenz
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Die wichtigste Grundlage für ein erfolgreiches Demenzmilieu ist die vertrauensvolle interdisziplinäre Zusammenarbeit. Im Idealfall aus pflegerischem, medizinischem und therapeutischem Fachpersonal, das mit den Angehörigen und den Betroffenen selbst, gemeinsam eine Strategie für mehr Lebensqualität erreicht.

Für die Einschätzung des individuellen Beziehungsbedarfes braucht es neben der Empathie die eigene Gefühlswahrnehmung und Bewusstwerdung seines intuitiven Handelns. Dies verlangt Erfahrung, Selbstbewusstsein und die Bereitschaft mit allen an der Beziehungsgestaltung beteiligten Personen im Austausch zu bleiben.

Durch Konsens und Austausch im Team werden unsere subjektiven Sinneswahrnehmungen, Gefühlseindrücke und Erfahrungswerte zu einem Bild zusammengefügt und Verstehenshypothesen gebildet die den subjektiven Sinn von demenziellen Verhaltensweisen erklären.

Ein interdisziplinäre Verstehenshypothese ist ein adäquates Mittel. Dazu müssen sich alle Beteiligten darauf verlassen können, dass den Empfehlungen aller gefolgt wird und Veränderungen umgehend nachvollziehbar mitgeteilt werden.

Kollegiale Fallgespräche und Beratungen sind wesentliches Merkmal von Professionalisierung, die eigene Arbeit zu reflektieren und die eigene Qualität durch kollegialen Rat weiterzuentwickeln. Derartige ziel- und lösungsfokussierte Fallberatungen sind in vielen Sozialberufen längst Alltag geworden und spiegeln ein Selbstverständnis von Ihrer Arbeit wider. Trauen wir uns doch, diese Kultur der Selbstpflege auch in Pflegeberufe zu integrieren.

Ein „reflektierender Praktiker“ im Feld der Demenz zu sein hält Tom Kitwood für eine der schwierigsten und anspruchsvollsten Aufgaben, die diese Gesellschaft zu vergeben hat.

Verstehenshypothese im Team, als Chance für Haltung und Entwicklung.

 

Veröffentlicht:

Vincentz „CAREkonkret“ Ausgabe 17.1.2020

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