Fallbesprechung und Verstehenshypothese im Team bei Menschen mit Demenz (Teil II)

von Tobias Münzenhofer

Verstehenshypothese im Team, als Chance für Haltung und Entwicklung

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Fallverstehen und Verstehenshypothese bei Menschen mit Demenz
Bildquelle: DZNE,2012 Wittener Modell der Fallbesprechung

 

Im Vergleich zu somatischen Erkrankungen sind Pflegende und Betreuende meist unzureichend vorbereitet auf die Arbeit mit psychisch erkrankten alten Menschen. Psychische Erkrankungen verändern Beziehungen und damit die Dynamik zwischen Klient*innen und Mitarbeitenden.

Wird diese nicht verstanden, erleben sich Pflegende hilflos und überfordert, ziehen sich zurück, meiden den Kontakt oder versuchen sich zu behaupten. Wächst dagegen das Verstehen, kann das Verhalten als Anpassungsversuch, Selbstausdruck, Beziehungsangebot verstanden werden, womit Pflegende konstruktiv umgehen können.

Die Arbeit mit psychisch kranken, alten Menschen kann dann als Lernprozess erfahren werden, von dem man nicht nur in der Rolle, sondern auch als Person profitiert. (et al. Müller-Hergl)

Das Verstehen des herausfordernden Verhaltens als Grundlage für den Umgang damit und als Ausgangspunkt für Interventionsentwicklung wird national und international als sehr wichtig beschrieben (Bartholomeyczik et al., 2013).

Die Beschreibung des Verhaltens und die Suche nach Ursachen sind die ersten beiden Schritte der Verstehenden Diagnostik des Verhaltens (Bundesministerium für Gesundheit, 2006). Hierzu werden vielfältige Informationen über Menschen mit Demenz, deren Umgebung und über die Beziehungen zu den pflegenden Personen selbst benötigt.

Der Fall ist die Person mit Demenz, die ein Verhalten zeigt, welches von mindestens einer Person (z.B. Pflegende) als „irritierend“ erlebt wird.
Die Situation kann vom Individuum mit den herkömmlichen Handlungsroutinen nicht gelöst werden und wird zum Problem und damit zum Fall, der dem Team im Rahmen einer Fallbesprechung zur Reflexion vorgestellt wird.

Da die Erklärungssuche für das Verhalten nicht einfach ist und je nach Informationsstand und Perspektive unterschiedlich ausfallen kann, werden Fallbesprechungen als eine vielversprechende Methode für die Durchführung der Verstehenden Diagnostik empfohlen.

Dieses Konzept der „Narrativen Fallbesprechung“ ist eine Methode, mit der sich Mitarbeiter eines Teams systematisch und zielorientiert über eine Problemsituation bei Menschen mit Demenz und herausforderndem Verhalten fachlich austauschen. Charakteristisch für die narrative Fallbesprechung ist, dass die themenzentrierte und lösungsorientierte Reflektion in einem „Prozess des freien Erzählens“ erfolgt. Eine inhaltliche Struktur wird nicht vorgegeben. Der Reflektionsprozess orientiert sich jedoch an einer festgelegten Ablauf- und Rollenstruktur.

Innerhalb des Fallverstehens bildet die Hermeneutik den theoretischen Erklärungsrahmen für das Konzept der „Verstehenden Diagnostik“. Gerade die Handlungen von Menschen mit Demenz erscheinen für Außenstehende oft unverständlich und nur schwer deutbar. Genau an diesem Punkt setzt die Hermeneutik innerhalb der Fallbesprechung an. Die Kunst der Hermeneutik besteht darin, das unverständliche (bei Menschen mit Demenz das herausfordernde) Verhalten verstehbar zu machen.

Theoretisch lässt sich das herausfordernde Verhalten mit Hilfe des NDB-Modells begründen. Das NDB-Modell (need driven dementia compromised behaviour model) bildet die Grundlage für die Verstehende Diagnostik und gibt wesentliche Hinweise für mögliche Ursachen des herausfordernden Verhaltens. Nach dem Modell wird das herausfordernde Verhalten durch Hintergrund- und Proximalfaktoren erklärt. Hintergrundfaktoren (z. B. Gesundheitsstatus, physische und kognitive Fähigkeiten, Krankheit, Persönlichkeitseigenschaften) sind dabei von außen kaum zu beeinflussen. Proximalfaktoren lassen sich hingegen von außen beeinflussen. Hierzu gehören z. B. die psychologischen (z. B. Hunger/Durst oder Schmerz) und psychosozialen Bedürfnisse (Emotionen oder Affekte) sowie die physikalische (z. B. Geräusche, Licht oder Stationsalltag) und soziale Umgebung (Personalausstattung oder Mitbewohner). Nach diesem Modell ist davon auszugehen, dass herausforderndes Verhalten kontextabhängig ist. Innerhalb der Fallbesprechungen versuchen die Teilnehmer, sich diesem Kontext anzunähern und mögliche Ursachen für das herausfordernde Verhalten zu ergründen.

Methode Fallbesprechung bei Menschen mit Demenz
Bildquelle: DZNE,2012 Wittener Modell der Fallbesprechung

 

Theoretischer Rahmen zu den Teamprozessen

Innerhalb des theoretischen Rahmens der Teamprozesse lassen sich vordergründig drei Dimensionen (subjekttheoretische, gruppentheoretische und organisationstheoretische Dimensionen) beschreiben, auf welche Fallbesprechungen im Team als Methode Einfluss nehmen. Subjekttheoretische, gruppentheoretische und organisationstheoretische Dimensionen durchdringen und beeinflussen sich dabei immer wechselseitig und dürfen deshalb nie isoliert betrachtet werden.

a) Subjekttheoretische Dimension:

Diese Dimension folgt hauptsächlich der Frage nach der Stellung des Subjekts im Rahmen der Fallbesprechung. Hierbei kommen jeweils unterschiedliche Ansätze zum Tragen. Für die Fallbesprechung legen wir die Grundannahme zugrunde, dass Menschen keine fest abgeschlossene Persönlichkeit besitzen. Jedes Individuum entwickelt sich immer stetig weiter, „konstruiert“ seine eigene Wirklichkeit und interpretiert diese kontinuierlich und fortlaufend auf Basis aus der Summe der eigenen erlebten, gelebten und vorgelebten Erfahrungen. Die Einstellung gegenüber der Effektivität der eigenen Handlung beeinflusst die Wirklichkeit. Dies wird als Selbstwirksamkeit bezeichnet. Selbstwirksamkeit bedeutet hier die subjektive Überzeugung, schwierige Aufgaben und Herausforderungen aufgrund eigener Fähigkeiten bewältigen zu können.

b) Gruppentheoretische Dimension

Die zugrunde gelegte Gruppentheorie geht davon aus, dass die Kreativität des Einzelnen in die Gruppe transportiert (strukturelle Koppelung) und gesteigert (Mehrwert für alle in der Gruppe) wird. Die Ziel- und Erfolgsorientierung erfolgt anhand eines kontinuierlichen Beratungs-/Austauschprozesses innerhalb des Teams. Im Austausch (Interaktion/Abgrenzung) mit der Gruppe erfolgen der Entwicklungsprozess und die Entstehung des „Wir-Gefühls“. Ein gemeinsames Set von Werten, Normen und geteilten Erfahrungen (Metapher der erzählten Geschichte) wird konstruiert.

c) Organisationstheoretische Dimension

Die zugrunde gelegte Organisationstheorie geht davon aus, dass die innerhalb einer Fallbesprechung angeregten Veränderungen durch den Erfolg der Gruppendynamik in die tägliche Praxis umgesetzt werden. Andere Organisationsmitglieder werden durch diesen positiven Effekt zum „Mitmachen“ angeregt und motiviert. Daraus können weitere organisationale Veränderungen entstehen. Das Wissen wird in der gesamten Organisation verbreitet und ggf. potenziert (Diffusion).

Durchführung der Fallbesprechungen

Ein festgeschriebener Ablaufplan ist notwendig, um das vielschichtige komplexe Geschehen einer Fallbesprechung in logische und nachvollziehbare Abschnitte zu gliedern. Die einzelnen Abschnitte sollen den Teammitgliedern helfen, sich dem Fall anzunähern. Auf die Phase der Problembeschreibung, welche die Beteiligten für den Fall sensibilisieren und zu einer präzisen Darstellung herausfordern sollen, folgt die Phase
der Ursachenanalyse, in der erste Hypothesenbildungen und Interpretationen des Problems stattfinden. Auf Basis dessen erfolgt die genaue Maßnahmenplanung.

In der Vorbereitung der Fallbesprechung geht es darum, dass eine Fallauswahl durch den Falleinbringer getroffen wird. Es sind inhaltliche und formale Vorbereitungen zu treffen. für die inhaltliche Vorbereitung ist der Falleinbringer verantwortlich. Eine sorgfältige Vorbereitung erhöht die Effektivität der Fallbesprechung.

Für die Durchführung einer Fallbesprechung gibt es für die Teilnehmenden verpflichtende Grundregeln. Diese beziehen sich auf Wertschätzung, Verbindlichkeit, aktive Beteiligung, Bereitschaft zur Offenheit und klare Kommunikationsregeln.

Ziele der Fallbesprechungen

  • Das Verhaltens eines Menschen mit Demenz (u. a. Gründe, Anlässe für das herausfordernde Verhalten) zu verstehen.
  • Neuinterpretation der Situation und Identifikation möglicher Ursachen (NDB – Modell).
  • Bewusstwerden eigener Fähigkeiten und Wissensbestände/Unterstützungs- und Bildungsbedarfe (Individuum und Team).
  • Finden von umsetzbaren Handlungsoptionen (Beziehungsebene und Intervention).
  • Finden einer gemeinsamen Handlungsbasis (Verständnis – Zielsetzung – Maßnahmen)

Ein «Reflektierender Praktiker» im Feld Demenz zu sein hält Kitwood für eine der schwierigsten und anspruchsvollsten Aufgaben, die diese Gesellschaft zu vergeben hat.

«Reflektierende Praktiker» – und nicht Ärzte – sind die von Kitwood anvisierten Experten, die mit Menschen mit Demenz einen möglichst angstarmen, normalen, ressourcenorientierten und familiären Alltag leben. Sie reflektieren vor allem ethisch und therapeutisch in Fallgesprächen und suchen nach individuellen Möglichkeiten, Wohlbefinden zu steigern und damit Person-Sein zu ermöglichen. Es geht darum schön zu machen, nicht nur sauber zu machen. - Das Wie wird wichtiger als das Was.

Dies nicht zuletzt deswegen, weil sie nur mit ihrer eigenen Person die Person des anderen «halten» können und im Pflegealltag die Grenzziehungen, die ein Psychotherapeut für sich in Anspruch nehmen kann, nur durch besonderes Bemühen wie z. B. Supervision geschaffen werden können. Entsprechend sollte die Würdigung ausfallen.

 

Quellen: DZNE (2012) Wittener Modell der Fallbesprechung bei Menschen mit Demenz – narrative Ansatz; Müller-Hergl; Buscher I. Reuther S. (2012): Konzept- Wittener Modell der Fallbesprechung bei Menschen mit Demenz mit Hilfe des Innovativen demenzorientierten Assessmentsystems (IdA®, Version 5.0), Witten

 

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