Personenzentrierte Führung in der Pflege

von Tobias Münzenhofer, Georg Vogel (Kommentare: 0)

Wir denken, dass personenzentriertes Führen sich in vielen alltäglichen Führungssituationen und bestehenden Formaten praktizieren lässt und dass die konstruktive, bewusste Herstellung und Pflege guter Arbeitsbeziehungen kein Luxusgut ist.

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Coaching für Führungskräfte in der Pflege

Die personenzentrierte Führung ist ein „altes“ und zugleich „modernes“ Konzept. Zum einen sind die Wurzeln in der humanistischen Psychologie und non-direktiven Gesprächsführung nach Rogers schon ab Mitte des 20. Jahrhunderts zu finden und skizziert. Zum anderen regt es Antworten/Hinweise für hochaktuelle Themen der Pflege an.

Die darin angesprochene Dimension von Führung unterscheidet sich von den Dimensionen Leiten und Managen, welche möglicherweise bei Führungskräften (aufgrund von zu erfüllenden Regularien und ökonomischen Vorgaben) dominant geworden sind, und geht darüber hinaus:

  1. Der Abwanderung aus dem Pflegeberuf kann nicht begegnet werden ohne ein Konzept und eine überzeugende Kultur der Anerkennung, Förderung und Beteiligung der Mitarbeiterschaft. Mitarbeiterbindung ist stets top down zu denken. Die damit verbundenen Veränderungsprozesse brauchen Mitarbeitende, welche diese mittragen. Das setzt Transparenz, Beteiligung, Sinn und Akzeptanz voraus, was steht und fällt mit echter und ernst nehmender Kommunikation der Führungskräfte. Sie stellen eine Art Flaschenhals oder „gate keeper“ von Veränderungsprozessen dar ( BDU-Fachverband Personalmanagement 2022). Eine Studie vom Dezember 2021 ergab, dass 40 % der befragten Pflegenden angeben, mindestens monatlich daran zu denken, den Pflegeberuf aufzugeben. Rund 30 % überlegen den Arbeitsplatz zu wechseln und ca. ein Drittel will die Arbeitszeit reduzieren (vgl. Das Gesundheitswesen 2021).
  2. Wenn im Pflege-Expertenstandard z.B. die Beziehungsgestaltung, die personen-zentrierte Kommunikation und Pflege etwa von Menschen mit Demenz als Ziel formuliert und beschrieben wird, so wird dies nicht zu trennen sein davon, dass die Mitarbeiterschaft selbst personenzentriert geführt wird.

„Grundsätzlich werden Pflegende eher befähigt sein, person-zentriert zu handeln, wenn sie selbst person-zentriert behandelt werden. Die Ermöglichung einer person-zentrierten Pflege ist somit primär Führungsaufgabe.“ (DNQP, 2018 Expertenstandard Beziehungsgestaltung in der Pflege bei Menschen mit Demenz)

Führungskräfte zentrieren sich somit auf die vorhandene Pflegefachlichkeit und sorgen dafür, dass sie tatsächlich abgerufen wird, damit die Pflegefachkraft mehr mit Vertrauen und Wahrnehmung ihrer Kompetenzen gefördert und weniger mit einem Defizit-Blickwinkel des Mangels gesehen werden kann.

Denn ein selbst herabgesetzt zugeschriebenes Pflegeniveau funktioniert nicht, wenn die nächste Qualitätsprüfung ansteht, in der Pflegefachgespräche vorausgesetzt werden. Spätestens dann werden Assessments wie Nahrungsprotokolle und Schmerzerhebung evaluiert, die erneut unter hohem Zeitdruck, ohne Zukunftsstrategie und Berücksichtigung vorhandener Pflegekompetenzen, abgearbeitet werden müssen. Dazu kommt das Gefühl, man arbeite immer nur „hinterher“, nie aber „voraus“ und nachhaltig.

Das Pflege- und Betreuungsteam reagiert auf Dauer enttäuscht und unmotiviert, wenn es in ein rein funktionelles Pflegeverständnis geführt und in seiner Fachlichkeit nicht ernst genommen sowie gezielt gefordert und gefördert wird.

Die beziehungsgestaltende Pflege wird somit erschwert. Ein solches, unter dem eigentlich vorhandenen Pflegeniveau ausgerichtetes Pflegemanagement sorgt bei den Pflegenden für Unruhe und Unzufriedenheit und verhindert, dass sie ihr Handeln als sinnvoll und erfreulich erleben können. Ein Führungsdenken, dass Pflegekräfte einfach nur funktionieren müssen und ihre Stellenbeschreibung erfüllen sollten, ist zu kurz gedacht und bringt nicht den erhofften Erfolg in der Pflegequalität.

Im Sinne einer guten und gelingenden Pflegepraxis, in der Pflegekräfte ihre Fachlichkeit abrufen können, gilt es, das Augenmerk auf konzeptuelle Grundlagen zu legen und nicht der formalen Erfüllung einer Stellenbeschreibung und dem Abarbeiten von Arbeitsaufträgen und Listen nachzukommen. Letztendlich wird sich der Erfolg zunächst weniger an Letzterem messen lassen, sondern auf Teamentwicklungsprozessen, Kompetenz- und Haltungsentwicklung beruhen.

Zu diesen klar ersichtlichen Zukunftsaufträgen gehört zunächst die tiefe Überzeugung und Willensbildung, einen Kulturwandel in der Einrichtung gemeinsam gestalten zu wollen. Das gelingt, wenn es als strategische Ausrichtung in kleinen Schritten, systemisch gedacht und partielle Begleitung hinzugenommen wird. Veränderung der Kultur braucht Zeit und meint u.a., dass die Führungskräfte wie z.B. die Pflegedienstleitungen den gemeinsamen Weg von einer aufgabenorientierten hin zu einer klientenorientierten Einstellung ermöglichen.

Das Einbetten von Beziehungshandeln in funktionale Aufgaben wie die der Grund- und Behandlungspflege wird mit dem Ziel einer bestmöglichen Übereinstimmung von Arbeits- und Lebenswelt fortlaufend reflektiert, optimiert und teamunterstützend begleitet.

Menschenbild und Grundlagen der personenzentrierten Führung

Als Menschenbild liegt die Auffassung zugrunde, dass jedem Menschen das Streben und die Fähigkeit nach Wachstum, Unabhängigkeit und Eigenverantwortung immanent ist. Menschen wollen sich verwirklichen, im Gleichgewicht sein, Sinn finden und für sich sorgen. Die Wahrnehmung und Verarbeitung von Erfahrung und Erlebnissen geschieht durch…

  1. Die Selbstaktualisierungstendenz: Jede/r hat den Wunsch sich zu erhalten, auszudrücken und zu entfalten in Richtung Selbstentwicklung und Autonomie. Die Aufgabe der Führungskräfte ist es, den (anfänglichen) Berufsmotiven wieder Raum zu geben, die Bedürfnisse zu sehen und die Potenziale der Mitarbeitenden zum Tragen zu bringen und realisierbar zu machen.
  2. Das Selbstkonzept: Jede/r hat zu jedem Zeitpunkt ein mehr oder weniger dem Bewusstsein zugängliches Konzept des eigenen Selbst. Dieses befindet sich in einem ständigen Veränderungsprozess und umfasst die Körper-, Sinnes- und sozialen Erfahrungen, alle Selbst- und Fremdzuschreibungen sowie die Wertvorstellungen. Das Selbstkonzept integriert kontinuierlich alle Arbeitserfahrungen.

Die Relevanz dieser beiden Aspekte besteht für Führungskräfte darin, dass Entscheidungen von Pflegenden (von der inneren Verlängerung engagierten Einsatzes, über die Ambivalenz, wie es weitergehen soll, bis hin zu Schritten, die Stelle zu wechseln oder den Beruf aufzugeben) früh, lange bevor sie geäußert und konkretisiert werden, im Prozess einer Ausbalancierung im Selbstkonzept verhandelt werden.

Wir wissen aus Studien, dass die Qualität der Arbeitsbeziehung zum/zur unmittelbaren Vorgesetzten für Mitarbeitende ein entscheidendes Kriterium für Motivation, Zufriedenheit und Verbleib im Beruf und an der Arbeitsstelle ist (vgl. BAuA 2005 und 2016).

Nur das ehrliche Interesse von Führungskräften für und das offene Gespräch mit den Mitarbeitenden ergeben die Chance, diese Prozesse zu erkennen und darauf Einfluss zu nehmen.

Insofern geht es darum, neben Führung den Faktor der Selbstführung der Mitarbeitenden zu erkennen und bewusst zu machen.

Es ist nachhaltiger, eher auf Selbstverantwortung der Mitarbeitenden zu setzen, als das meiste über Führungshandeln regeln und organisieren zu wollen. Gordon (2005) stellt die These auf: „So kommen wir zu der paradoxen Feststellung, dass effektive Führer ganz, wie Gruppenmitglieder handeln und effektive Gruppenmitglieder ganz wie Gruppenführer“.

Dies als Leitidee nehmend verändern sich Stations-/Teambesprechungen: Für die Tagesordnung sollte/kann dann das Team verantwortlich oder zumindest mit-verantwortlich sein; die Entscheidungsfindung ist in hohem Maß partizipativ und unterschiedliche Ebenen der Beteiligung wie der systematischen Problemlösung (Konsent-Methode u.a.) werden etabliert. Leitungsentscheidungen im Alleingang sind (ebenso wie Mehrheitsentscheidungen) i.d.R. für die meisten Probleme und Konflikte nicht tauglich.

Als Grundhaltung haben Führungskräfte beim personenzentrierten Führen im Blick, Empathie aufzubringen und die subjektive Realität der Mitarbeitenden anzuerkennen, deren Ressourcen, Vorschläge, individuellen Lösungsversuche zu fördern sowie Selbstverantwortung und Selbstbestimmungspotenzial zu respektieren.

Und es geht darum, die Rahmenbedingungen für ein Klima der Akzeptanz und Wertschätzung zu schaffen und selbst kongruent zu sein, echt und authentisch zu kommunizieren: Dazu gehört u.a. das aktive Zuhören, um die (Selbst-) Erkenntnis des Gegenübers zu unterstützen, aber auch um Probleme und Sachverhalte aus Sicht des Gegenübers zu verstehen und selbst nicht zu schnell mit Interpretationen und Priorisierungen zu reagieren.

Personenzentriertes Führen und Führungsstil - konkrete Anwendung

Die personenzentrierte Führung realisiert sich am Besten in einem Führungsstil, der kooperativ, mitarbeiter- und beziehungsorientiert ist; sie wird stimmig erlebt und wirksam, wenn sie in Führungsleitlinien verankert ist; in der Umsetzung erzielt sie Glaubwürdigkeit und Strahlkraft auf das Betriebsklima, wenn sie im Verhalten aller Führungsebenen gelebt wird: Die Mitarbeitenden werden in Meinungsbildung und Entscheidungsprozesse einbezogen, Konzepte zur Selbstorganisation gefördert; es wird eine offene wertschätzende Kommunikation praktiziert; Vertrauen und Kooperation prägen die Arbeitsbeziehungen zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden; Feedback ist gewünscht und gelebter Alltag, so dass auch Konflikte besser angegangen und gelöst werden können; die Offenheit für die Probleme der Mitarbeiterschaft und ihr Wohlergehen (systemisches Gesundheitsmanagement) sind zentral.

Die Basis und Klammer alles Genannten ist die Kommunikation der Führungskraft:

  • Vertrauensbildend wirken durch Ich-Botschaften, Transparenz und Erreichbarkeit; Teamarbeit partizipativ gestalten, Zusammenhalt fördern, Stationskonferenzen und Teambesprechungen zu einem positiv moderierten und lebendig erlebten Ort von Austausch machen.
  • Die Problemlösungskompetenz der Mitarbeitenden wahrnehmen und Problemlösungsknowhow fördern.
  • Konflikte früh und direkt ansprechen und vermitteln, Konsense bilden.
  • Motivlagen der Einzelnen hören, erkennen, gemeinsam Gestaltungsformen finden.
  • Mit Zielen führen, um die Ziele der Organisation mit den Bedürfnissen, Fähigkeiten und Entwicklungsoptionen der Mitarbeitenden in Einklang zu bringen.

Anhand zweier Beispiele soll die Umsetzung erläutert werden: Man muss dafür nicht unbedingt Neues einführen, sondern kann zeitnah starten, den eigenen Führungsstil zu reflektieren, sich für die Kommunikation zu sensibilisieren, indem mit personenzentrierter Haltung vorhandene Formate genutzt werden:

Fallgespräche

Fallgespräche sind oft ein noch nicht genügend genutzter Raum, in dem neben professioneller Fallarbeit zugleich Zusammenhalt, positives Arbeitsklima und Achtsamkeit für die Bedürfnisse der Mitarbeitenden gepflegt werden können.

Zu empfehlen ist die zielorientierte, zugewandte und klare Moderation der Fallgespräche mittels vorliegender und individuell adaptierbarer Leitfäden kollegialer Beratung (vgl. Tietze 2003). Viele Mitarbeitende sind etwa von aggressivem Verhalten (Schimpfen, Schreien, körperliche Angriffe beim Waschen, bei Nahrungsaufnahme und Medikamenteneinnahme) durch BewohnerInnen stark belastet.

Hier das Erleben, die Wahrnehmungen in der Situation, die persönliche Resonanz, Emotionen, Hypothesen usw. schrittweise, offen und vertrauensvoll auszusprechen und zu verdichten, führt nicht nur zu einem vertieften Verständnis der Klienten und verschiedenen Ideen zukünftiger Umgangsweisen; sondern es können dabei die immensen Anforderungen anerkannt, die Leistung gewürdigt und der Respekt vor der Ambiguitätstoleranz und Bewältigungskompetenz der Mitarbeitenden sichtbar werden; nicht zuletzt wird kollegiale Beratung, die Erörterung gemeinsamer Werthaltungen und Interventionen, bewirken, dass Lerneffekte über den Einzelfall hinaus gewonnen werden.

Führung wird dann zunehmend als wirklicher Dialog auf Augenhöhe mit dem Ziel besserer Ergebnisse wahrgenommen. Führungskräfte zielen somit darauf ab, den Austausch von Wissen, Informationen und Erfahrungen zu organisieren, zu vertiefen und lösungsorientiert zusammenführen, ohne die eigene Positionsautorität zur einzigen Richtschnur des Vorgehens im jeweiligen Fall zu machen.

„Pflegende werden in Abhängigkeit ihrer Erfahrung zur Selbststeuerung und Selbstverantwortung angeleitet. Führung zielt darauf ab, dass Pflegende das tun können, was fachlich wichtig und erforderlich ist, damit sie ihre Arbeit als sinnvoll und erfreulich erleben können.“ (DNQP, 2018 Expertenstandard Beziehungsgestaltung in der Pflege bei Menschen mit Demenz)

Eigenreflexion und Selbstmanagement

Gemeint ist u.a. die Reflexion des eigenen Führungsstils, die Betrachtung der Führungshaltung und das Sich-Sensibilisieren, Wiederaneignen und Erproben von dialogisch-mitarbeiterorientierter Gesprächsführung (besonders in Mitarbeitergesprächen).

Oft fehlt aufgrund des Arbeitsdrucks die Priorisierung dafür, Orte zu schaffen oder zu besuchen, um sich mit neuem Führungswissen, mit der Beziehung zu Mitarbeitenden oder zu sich selbst auseinanderzusetzen.

Dies können professionelle Formate (Leitungscoaching und Einzelsupervision), kollegialer Austausch (kollegiale Beratung/Intervision mit anderen Führungskräften), strukturiertes Selbstcoaching (vgl. Vogel 2013) oder das Einholen von Feedback sein. Selbstreflexion bedeutet etwa für Führungskräfte, die „Falle“ zu erkennen, dass die Systeme und Untergruppen der Einrichtung von ihnen i.d.R. erwarten, besonders stark, überlegen und unangefochten zu sein.

Dies kann aber zu einem „Teufelskreis“ führen, wo sich Mitarbeitende dann zunehmend passiv und unmündig verhalten; stattdessen wäre es für Führungskräfte wichtig, auch Begrenzungen z.B. von Wissen sichtbar zu machen und eher das Wissen aller zusammenzutragen und zu organisieren.

Fazit

Motivation, Wir-Gefühl und Identifikation bekommt man nicht zum Nulltarif. Führungskräfte brauchen Entschiedenheit, Zeit und Training, um Fragen der Partizipation, des Konfliktmanagements, der Dialogfähigkeit und Integrationsfähigkeit (für zunehmend diverse Teams) anzugehen. Woher die Zeit nehmen?

Wir denken, dass personenzentriertes Führen sich in vielen alltäglichen Führungssituationen und bestehenden Formaten praktizieren lässt und dass die konstruktive, bewusste Herstellung und Pflege guter Arbeitsbeziehungen kein Luxusgut ist; vielmehr ist sie eine essentielle Voraussetzung, um das wesentlichste Gut zu schaffen: Beziehung und Vertrauen (in Person und Arbeitsverhalten).

Zielgerichtete Zusammenarbeit bei gleichzeitiger Achtung der Personen, der Fähigkeiten und des Ausdruckswillens führen zu Lernprozessen in Teams, welche die Qualität der Arbeit befördern, so dass z.B. auch das Zutrauen in die Kompetenz und das Gelingen von Pflegefachgesprächen wächst.

Veröffentlicht: Pflege Professionell - Das Fachmagazin 31/2023

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